Donnerstag, 28. März 2024

10.08.2016
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Türkei erhält von der EU die absurdeste Entwicklungshilfe

Türkei erhält von der EU die absurdeste Entwicklungshilfe
von Ulli Kulke

Zehn Milliarden „Heranführungshilfe“. Unter anderem für den Aufbau einer „unabhängigen Justiz“ sowie einer Zivilgesellschaft. Und das in diesen Tagen. Erdogan freut sich über die Unterstützung von den „radikalen Rassisten“.

Für den türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu ist Österreich das „Zentrum des radikalen Rassismus“, weil der Wiener Bundeskanzler Christian Kern die Beitrittsgespräche der EU mit dem türkischen Staat als „nur noch diplomatische Fiktion“ bezeichnete und sein Außenminister Sebastian Kurz forderte, die Verhandlungen erst mal auszusetzen. Alles vor dem Hintergrund der antidemokratischen – ja, auch faschistischen – Machenschaften der Regierung in Ankara, die wohlgemerkt nicht erst seit dem gescheiterten Putsch gegen Präsident Erdogan eingesetzt haben. So ein absurder Rassismusbegriff würde es auch erlauben, es als „radikalen Rassismus“ abzutun, dass die Türkei bei der Fußball-Europameisterschaft schon in der Vorrunde rausflog (und in der Tat: Staatspräsident, Staatsfernsehen und Staatspartei-Zeitungen sahen denn ja auch politische Motive dahinter).

Absurd ist das Gedröhne aus der Türkei aber vor allem aus einem anderen Grund – auf den ersten Blick jedenfalls. Hatte Erdogan nicht unlängst angekündigt, er werde eine Volksabstimmung abhalten lassen, um zu sehen, ob die Türken den Beitritt überhaupt noch wollten (einige Umfragen haben eine Mehrheit dagegen ermittelt) – der Türxit als Drohkulisse Ankaras an der Wand, bevor das Land überhaupt Mitglied ist. Und: selbst mit dem Ende der Verhandlungen drohen – dasselbe beim Partner aber als „radikalen Rassismus“ abzukanzeln. Also ein klarer Fall von radikaler Bigotterie, Schizophrenie? Nicht unbedingt.

Erdogan und die türkische Regierung können derzeit ganz gut mit dem Status eines Beitrittskandidaten leben, auch wenn sie selbst mit der Aufkündigung drohen. Er bedeutet für sie bares Geld, viele Milliarden Euro, und da fängt die Absurdität erst richtig an. Wenn man sich nämlich anschaut, wofür das Geld nach Ankara im Einzelnen genau fließt. Der Topf ist nicht gänzlich unbekannt, es wundert allerdings schon, warum gerade dieser Tage darüber nicht viel heftiger gestritten wird. Einzig Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer (CSU) hatte im Juni einmal zur Diskussion gestellt, ob denn da noch alles mit rechten Dingen zugeht. Jetzt machen die Vorkommnisse seit Juli diese Frage um so drängender.

Knapp zehn Milliarden Euro erhält die Türkei im Zeitraum 2007 bis 2020 als „Heranführungshilfe“, wir befinden uns gerade in der zweiten Etappe dieser Vereinbarung. In der ersten zwischen 2007 und 2014 flossen schon einmal gut fünf Milliarden. Die Geberlaune der 28 Staaten gegenüber der Türkei ist also ungebrochen. Von Deutschland allein kamen im ersten Zeitraum 1,088 Milliarden. In den zwei Jahren 2015 und 2016 legte Berlin 267 Millionen drauf. Und wofür?

Man höre und staune: Ankara bekommt die Milliarden unter anderem zum Aufbau einer effektiven und regierungsunabhängigen Justiz und zur Förderung der Zivilgesellschaft, sprich „Nichtregierungsorganisationen“. Ein weiterer Punkt: Förderung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten, einschließlich der Medienfreiheit. Schon im Juni wies CSU-Mann Singhammer auf die eklatante Diskrepanz zwischen dem Ziel der

„Heranführung“ und der tatsächlichen „Kontinentaldrift der Türkei“ weg von Europa hin. Schon damals zurecht. Bereits 2015, nach der Wahl Erdogans zum Präsidenten, stellte das Verbindungsbüro der EU in der Türkei dort politische Tendenzen fest, die sie diplomatisch als „Verlangsamung des Reformprozesses“ bezeichnete, die allerdings auf nichts anderes als eine faktische Umkehr hinausliefen und -laufen.

Die Süddeutsche Zeitung schrieb im Oktober letzten Jahres: „Auch im türkischen Justizwesen verschlechtere sich nach Einschätzung der Kommission die Lage“, heißt es in dem Schreiben des EU-Verbindungsbüros. Durch den unzulässigen Eingriff der Exekutive in die Justiz sei „deren Unabhängigkeit weiter beeinträchtigt“. Richter und Staatsanwälte seien wegen ihrer Entscheidungen festgenommen und Staatsanwälten Ermittlungsverfahren entzogen worden. „Anlass zur Sorge“ gäben aber auch „die verschärften Restriktionen bei der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit“. Beim Schutz der Menschenrechte seien ebenfalls „gravierende Mängel festzustellen“. Insbesondere im Bereich der Meinungsfreiheit hätten sich die Verhältnisse „wesentlich verschlechtert“. In diesem Zusammenhang wird auf die „Strafverfahren gegen Journalisten, Schriftsteller oder Nutzer sozialer Medien“ verwiesen, die in den vergangenen beiden Jahren eingeleitet wurden.

All dies war, wohlgemerkt, der Zustand im vergangenen Jahr. Schon damals hätte man sich eigentlich wundern dürfen: Ein Staat, der die Ziele einer entwicklungspolitischen Förderung – nur so darf man ja wohl das nennen, was dem EU-Beitrittskandidaten Türkei angedeiht – derart mit den Füßen tritt, erhält das Geld weiter hinterher geschmissen? Ist es diplomatische Nachsicht der EU oder das Beharrungsvermögen der Büros in Brüssel, die mit der „Heranführungshilfe“ für die Türkei ihre Brötchen verdienen?

Und jetzt? Um wieviel absurder muten die Milliarden für Ankara nun nach den Reaktionen Ankaras auf den gescheiterten Militärputsch an. Ist es der Putsch, der die EU-Verantwortlichen ihr Gesicht wahren lässt, wenn sie weiterhin die Drangsalierung der türkischen Justiz mit Geldern hofieren, die doch für die Gegenrichtung gedacht sind? Dann wäre der Putsch auch in diesem Sinne für Erdogan ein „Geschenk Gottes“, wie er es ausdrückt. Erdogan, der seine Präsidialdemokratie ja auch fröhlich mit derjenigen Hitlers verglichen hat. Appeasementpolitik wird heute eben nicht nur praktiziert, sie wird obendrein noch mit Milliarden versüßt. Wir haben es ja, sagt man sich in Brüssel.

Seit dem Putschversuch im Juli 2016: 130 regierungskritische Medien, Zeitungen, Fernsehanstalten und Radiostationen geschlossen, viele Dutzend regierungskritische Journalisten festgenommen, mehr als 3000 verdächtige Richter entlassen, 50.000 Reisepässe von politisch Verdächtigen abgenommen, 15.000 Menschen verhaftet und in irgendwelche Lager gesteckt, so dass Amnesty International nur noch Alarm schlagen kann. Nur ein Detail: Eine deutsche Staatsbürgerin wurde ebenfalls verhaftet, und der deutschen Botschaft im Hohn auf jegliche diplomatische Gepflogenheit jeder Besuch – und Auskunft – verweigert, immerhin dem Hauptgeldgeber.

Die Gewaltenteilung ist praktisch aufgehoben in dem Land. Soweit sind wir jetzt. Die Beitrittsgespräche werden aber nicht auf Eis gelegt, die Visafreiheit weiterhin in Aussicht gestellt und lediglich erklärt, die Türkei habe „immer noch nicht alle Bedingungen“ erfüllt, was so klingt wie: Man stehe aber kurz davor. Immer optimistisch blieben. Und die Millionen und Milliarden für eine Errichtung einer unabhängigen Justiz und einer Zivilgesellschaft, sie fließen weiter. Wahrscheinlich finden irgendwo Workshops für Justizangestellte statt, bei denen in Seminargebäuden theoretische Abläufe und Rollenspiele ablaufen, einschließlich Verpflegung und Nachmittagskaffee, während Erdogan von oben seinen faschistischen Staat konzipiert. Für alle Beteiligten zwischen Brüssel und Ankara zum Gewinn.

Unabhängig von dem eklatanten, ja diametralen Missverhältnis zwischen den zweckgebundenen Geldern und den tatsächlichen Entwicklungen bleiben unterm Strich zwei allgemeine Aspekte: Mangelt es denn wirklich am Geld, wenn es um den Aufbau einer unabhängigen Justiz, einer Zivilgesellschaft und der Akzeptanz von Menschenrechten geht, oder am guten Willen, an der Bereitschaft der Obrigkeit? Wenn es ums Geld geht, so müssten wir jetzt, nach Erdogans neuem Kurs den Etat erst Recht ganz schnell erhöhen und gleich hunderte Milliarden nach Ankara überweisen, in der Hoffnung, dass der Staatspräsident dann irgendwie die Kurve kriegt und man dort dann nicht mehr „Rassismus“ ruft.

Spaß beiseite: Das ganze Konstrukt der „Heranführungshilfe“ erweist sich im Fall der Türkei als das, was sie ist: Entwicklungshilfe. Zugunsten eines Staates, der in seiner heutigen politischen Verfassung und seiner ganzen Fragilität alles andere ist, aber kein EU-Partner. Die SPÖ-geführte Regierung in Wien hat das erkannt. Ich vermute, andere auch, aber sie sagen es nicht. Und das wird auf sie und die sie tragenden Parteien zurückfallen.

Ulli Kuhlkes Beitrag erschien zuerst bei Donner und Doria (Die Welt).

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