14.07.2016
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Die EU ist eine gute Idee. Eigentlich.

Die EU ist eine gute Idee. Eigentlich.
Der Brexit zeigt auf, was alles in der Europäischen Union schief läuft. Von Gideon Böss.

Dass Großbritannien die Europäische Union verlassen wird, ist schade. Und es ist gefährlich, vor allem für die EU, denn dieser Schritt bedroht sie viel mehr als das Vereinigte Königreich. Ich hatte gehofft, dass der Brexit scheitert, weil ich die Idee hinter der EU großartig finde. Schließlich ist es eine tolle Geschichte, wenn ein Kontinent, der sich bis dahin in regelmäßigen Abständen mit Terror, Krieg und Völkermord zugrunde richtete, zusammenwächst, Wohlstand erwirtschaftet und seinen Bürgern das grenzenlose Reisen durch das gesamte EU-Gebiet ermöglicht.

Dass die europäischen Staaten heute auch ohne die EU keine Kriege gegeneinander mehr führen würden, stimmt zwar, macht aber die Verdienste der EU um die Entwicklung des Kontinents nach dem Zweiten Weltkrieg nicht weniger groß. (Die andere Institution, die sich ebenfalls große Verdienste um den Frieden in Europa erworben hat, ist übrigens die NATO -also die USA-, da sie der EU das Überleben sicherte und immer noch sichert.)

Und trotzdem zeigt der Brexit auch, was alles schief läuft in der EU. Die Briten haben sich in freien Wahlen für den Austritt entschieden. Das ist schade, aber eben auch ein urdemokratischer Vorgang. Die EU hätte dieser Entscheidung mit dem Respekt begegnen müssen, der sich in so einem Fall gehört. Da verlässt jemand freiwillig einen Club, dem er davor freiwillig beigetreten ist. Dass stattdessen nach dem Votum plötzlich in Brüssel ein aktionistischer Druck auf London ausgeübt wurde, nun aber auch bitteschön innerhalb weniger Tagen alles in die Wege zu leiten, war peinlich und nicht angemessen. Zumal die EU auch sonst immer ein eher gemächliches Tempo einschlägt. Da ist es nicht zu verstehen, warum ausgerechnet in einer so komplexen Angelegenheit plötzlich so sehr gedrängt wurde. Der Grund dürfte vor allem mit der Kränkung zu tun haben, dass sich da jemand gegen die EU entschieden hat, die es bislang nur gewohnt war, umworben zu sein. Der erste Korb tut halt immer am meisten weh.

Genau dieses Selbstbild ist ein Problem der EU. Sie muss begreifen, dass sie kein Selbstzweck sein kann, sondern davon abhängig ist, ob sie die Länder und Bürger immer wieder von der Idee EU überzeugen kann. Denn es gibt Alternativen, spätestens jetzt muss das auch dem größten Ignoranten klar sein. Leider machen aber die Reaktion aus Brüssel nicht den Eindruck, als ob der Brexit einen Prozess der Selbstkritik ausgelöst hat. Wenn eines der wichtigsten Länder freiwillig die EU verlässt, sollte das vielleicht auch das eine oder andere EU-Alphatier darüber nachdenken lassen, ob und was womöglich falsch läuft. Und durchaus darf man in so einer Situation auch die eigene politische Zukunft kritisch überdenken. Aber Rücktritte von Juncker und Schulz sind ausgeblieben, so wie sich generell niemand veranlasst sah, Platz zu machen.

Und wenn dann doch jemand konsequent ist, wird das mit einem Geifern kommentiert, als ob es sich für demokratische Politiker nicht gehört, auch nur einen Tag weniger als irgend möglich an ihren Posten zu kleben. Dass David Cameron direkt nach dem Brexit seine politische Laufbahn für beendet erklärte, wurde in der EU als feige Aktion angesehen. Dabei wäre alles andere inkonsequent gewesen. Cameron war entschieden gegen den Brexit, das Volk dafür. Also ist Cameron nicht der richtige Mann für diese Aufgabe. Auch Boris Johnson und Nigel Farage zogen sich zurück, zwei wichtige Befürworter für den EU-Austritt. Johnson, weil er im parteiinternen Kampf um die Cameron-Nachfolge schlicht verlor und Farage, weil er sein politisches Lebenswerk erfüllt sieht. Er machte Politik, um Großbritannien aus der EU zu lösen und Großbritannien hat sich nun genau dafür entschieden. Warum soll er weitermachen müssen? Wer findet, Farage solle jetzt gefälligst auch „ausbaden“, was er „angerichtet“ hat, zieht ohnehin einen falschen Schluss aus dem Referendum. Wenn überhaupt, hat der Wähler etwas „angerichtet“, denn er hat entschieden, und eben nicht Farage oder Johnson. Nun ist die Politik am Zuge, den Willen des Wählers (bzw. des Volkes) umzusetzen. Dafür sind Politiker da, die müssen aber nicht zwingend Farage heißen, was ja einer der sympathischen Unterschiede zwischen einer Demokratie und einer Diktatur ist.

Während in Großbritannien also gerade nach dieser epochalen Wahlentscheidung die Demokratie zeigt, was sie ausmacht, passiert in Brüssel leider nichts in diese Richtung. Stattdessen ist da eine erstaunliche Selbstzufriedenheit inmitten der schwersten Krise der eigenen Geschichte zu bestaunen. Dabei ist die EU nur so viel wert, wie die Idee hinter einem geeinten Europa. Wenn diese an Strahlkraft verliert, verliert auch Brüssel an Legitimität. Also muss sich auch diese Idee immer wieder bewehren und die Auseinandersetzung mit konkurrierenden Ideen suchen. Dazu gehört auch, diese anderen Ideen ernst zu nehmen. Die EU hat die Brexit-Kampagne bis zum Ende nicht wirklich ernst genommen und gedacht, dass sie natürlich scheitern wird. Es kam anders und erst dann wurde Brüssel aktiv und zwar auf die unsouveräne Art, wie sie schlechten Verlierern eigen ist.

Wenn die EU nicht bald in den Ring steigt, und die eigene Idee offensiv bewirbt, wird sie schneller zerfallen als man es sich heute vorstellen kann. Ob die Funktionäre, die aktuell in Brüssel am Ruder sind, eine solche Überzeugungsarbeit leisten können, muss stark bezweifelt werden. Dass sie demnächst abtreten, aber auch. Leider.

Gideon Böss ist Journalist und Autor des Buches “Deutschland, deine Götter”. Dieser Artikel ist zuerst am 9. Juli 2016 auf seinem "Die Welt"-Blog "Böss in Berlin" erschienen.