27.06.2016
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Nach dem Brexit: TINA ist tot - es lebe die Freiheit!

Nach dem Brexit: TINA ist tot - es lebe die Freiheit!
"TINA: There Is No Alternative" - mit diesem Leitspruch wird heute die Regierungszeit der britischen Premierminsterin Thatcher verbunden. In ähnlicher Weise wird die Amtszeit von Kanzlerin Merkel mit dem Begriff der "Alternativlosigkeit" in Verbindung gebracht. Doch seit dem britischen Referendum über die Zugehörigkeit Großbritanniens zur Europäischen Union ist der Weg für ein "Weiter so" versperrt. Und ob einem das Ergebnis der Abstimmung nun gefällt oder nicht - die Frage nach Veränderungen und nach Alternativen steht auf der Tagesordnung. Und das allein ist bereits ein positiver Effekt des Brexit.

Es liegen verschiedene Szenarien auf dem Tisch: Das deprimierendste ist die schleppende Relativierung und Entwertung des im Abstimmungsergebnis zum Ausdruck kommenden Bürgerwillens. Leider ist dieses Szenario bereits zu beobachten: Die Schuldzuweisungen zwischen unterschiedlichen (Nicht-)Wählergruppen sowie die Diskussionen über Online-Petitionen oder gar neue Referenden sind Ablenkungsdebatten, um sich dem eigentlichen Thema nicht stellen zu müssen. Gleichzeitig zeigen sie aber auch, wie notwendig tatsächlich ein grundlegendes Umdenken in Europa ist, wenn man Werte wie Demokratie und Selbstbestimmung auch weiterhin zu den Bestandteilen des "europäischen Gedankens" zählen mag.

Aber es gibt neben dem zaudernden Zurückrudern oder dem bräsigen Verschleppen der Dynamik auch durchaus spannende Gedankenspiele über die Zukunft nach dem Brexit. Eine Vision reißt beispielsweise der Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Prof. Dr. Gunnar Heinsohn in seinem kurzen Kommentar "Es gibt Alternativen zur EU - hier ist eine" an:

"Von Grönland und Island im Norden bis zur russischen Grenze im Osten und Dänemarks Südgrenze mit Schleswig-Holstein existiert eine weltoffene und hochentwickelte Gruppe von Nationen, die vom Joch der Eurorettungen frei ist und mehrheitlich der Brüsseler Nomenklatura schon nicht mehr gehorchen muss. Mit knapp 3,7 Millionen Quadratkilometer und fast 90 Millionen Einwohnern, die Englisch als Muttersprache oder als souverän beherrschte Zweitsprache verwenden, hat sie beste Voraussetzungen für eine eigenständige Union. Traditionell liberal und ohne nationale Chauvinismen können ihre Menschen eine gemeinsame Zukunft errichten und auch fernerhin im 21. Jahrhundert geschützt leben, weil sie aufgrund des britischen Nukleararsenals in den schottischen Häfen ungefährdet bleiben."

Man muss mit Heinsohn keineswegs übereinstimmen - aber allein das Nachdenken über Veränderungsoptionen mit konkreten Realitätsbezügen ist erfrischend. Und dieses Nachdenken muss Europa auch zulassen. Freilich treten die Protagonisten der EU-Angstpolitik nunmehr als Bremser und Warner auf den Plan, um jeden noch so vorsichtigen Versuch der rein gedanklichen Fahnenflucht sofort als Hirngespinst zu verteufeln. Andererseits ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, an dem man die Realität neu denken und sich die Zukunft neu ausmalen muss, wenn man im Sattel bleiben und sich nicht von den Ereignissen hinterher- und durch den Dreck ziehen lassen will.

Auch Cora Stephan rief in ihrem Essay "Keine Angst vor dem Brexit!" vom 20. Juni 2016 dazu auf, endlich in die inhaltliche Auseinandersetzung um die Zukunft zu gehen. Und sie forderte einen Perspektivwechsel: "Dass es einem Land auch ohne EU wirtschaftlich glänzend gehen kann, demonstrieren die Schweiz und Norwegen. Gibt es also eine weltpolitische Notwendigkeit für die EU, sofern sie mehr sein will als ein freier Verbund selbständig agierender Gemeinwesen, die ihre Interessen kennen?"

Es sind Fragen wie diese, denen nun unsere Aufmerksamkeit gelten sollte. Oder, wie Stephan es drei Tage vor dem Referendum schrieb: "Es ist hohe Zeit, darüber zu streiten, ob die EU ein Modell für die Zukunft ist – oder ob es uns nicht allen besser bekommen würde, wenn wir auf einem Kontinent lebten, auf dem freie Länder sich gegenseitig überbieten, was Lebensqualität und Innovationslust betrifft. Nicht die Ökonomie und nicht die „soziale Frage“ allein stehen derzeit auf dem Spiel. It’s a question of freedom, stupid."

Matthias Heitmann ist Redakteur der BFT Bürgerzeitung, freier Publizist und Autor des Buches "Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens". Seine private Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de


Lesetipp

Cora Stephan: "Keine Angst vor dem Brexit!" (http://www.wiwo.de/politik/europa/stephans-spitzen-keine-angst-vor-dem-brexit/13760994.html)