15.06.2016
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Demokratie zu kompliziert: Berlin von Wahlorganisation überfordert

Demokratie zu kompliziert: Berlin von Wahlorganisation überf...
Das Scheitern beim Flughafenbau ist wohl nur die Spitze des Eisbergs. In Berlin sind auch die Wahlen zum Abgeordnetenhaus keine Routine, beschreibt Peter Grimm.

Die Nachrichten dieses Wochenendes versprechen einen neuen und bislang undenkbaren Schritt in Richtung Auflösung unserer verfassungsmäßigen demokratischen Ordnung. In Berlin mahnt keine Geringere als die Landeswahlleiterin Petra Michaelis-Merzbach, dass die Durchführung der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus akut gefährdet sei. Zum einen ist die Berliner Verwaltung schon seit Jahren nicht mehr in der Lage, ihren Bürgern Termine zu geben, um ihren Wohnsitz ordnungsgemäß anzumelden, geschweige denn Personalausweise oder Reisepässe auszustellen. Deshalb gibt es zugezogene Berliner, die nach Wahlgesetz wahlberechtigt sind, doch nur abstimmen könnten, wenn es denn die Verwaltung geschafft hätte, sie entsprechend zu registrieren.

Zum anderen, beklagt die Landeswahlleiterin in einem Brief an den Senat, hätten Testläufe ergeben, dass Wählerverzeichnisse nicht zuverlässig erstellt würden, Wahlbenachrichtigungen falsche Angaben enthielten und auch bei der Auswertung der Ergebnisse gravierende Fehler aufträten. Der Tagesspiegel zitiert aus ihrem Schreiben: Bei einer Probewahl im Mai, bei der das PC-Programm eine Woche lang getestet wurde, sei es zu Datenverlusten und der Vermischung von Datensätzen gekommen. Außerdem seien die Antwortzeiten des Systems, insbesondere bei der Ausstellung der Wahlscheine, zu lang. Der Massendruck von Wahlscheinen sei noch gar nicht getestet worden, informierte Michaelis-Merzbach die Innenbehörde. Die mit dem System erzeugten Dokumente seien fehlerhaft. Beispielsweise sei auf dem Wahlschein falsch angegeben, für welches Wahllokal er gültig ist. Und nach dem aktuellen Stand der Dinge könnten die Wählerverzeichnisse nicht korrekt und nicht innerhalb weniger Stunden, wie es notwendig ist, zwei Tage vor der Wahl komplett ausgedruckt werden. […]

Wenn erst Mitte Juli, drei Wochen vor dem Echteinsatz der Software, festgestellt werde, dass Komponenten nicht funktionierten, bleibe für Fehlerbehebungen keine Zeit mehr, warnte Michaelis-Merzbach. Wie ist es nur seit dem Zweiten Weltkrieg gelungen, fehlerfreie Wahlen zu organisieren? Warum kann man nicht so wählen wie beim letzten Mal auch? Das sei zu personalintensiv, heißt es dann. Also wählen wir jetzt lieber gar nicht? In einer Beiläufigkeit, im Schatten der Fußball-Europameisterschaft, wird das Publikum auf einen neuen Akt des Staatsversagens vorbereitet, der einem Staatsstreich gleichkommt.

Natürlich klingt es absurd, von einem Staatsstreich zu sprechen, denn so viel absichtsvolles Handeln traut die geplagte Bevölkerung in der Berliner Politik nun wirklich niemandem mehr zu. Wer es schafft, trotz hohem Milliarden-Einsatz einen mittelmäßigen Flughafen viele Jahre lang nicht zu eröffnen, ja nicht einmal ein verlässliches Eröffnungsdatum nennen zu können oder die einstmals vorbildliche Berliner S-Bahn soweit verkommen zu lassen, dass zwischenzeitlich weniger Züge fahren als im März 1945, der dürfte wohl kaum die Republik aus den Angeln heben können. So ist denn auch die Reaktion auf den Brandbrief, den die Landeswahlleiterin an den Senat geschrieben hat, entsprechend. Die Innenverwaltung, sagt, alles würde gut und bis zu den Wahlen werde auch die Software schon noch funktionieren. Klingt das nur zufällig nach „Wir schaffen das“?

Die Berliner SPD, Regierungspartei der letzten Legislaturperioden, erklärt hingegen vorsorglich die nur diesmal mitregierende CDU für allein verantwortlich, weil die ja den Innensenator stellt. Dessen politische Wirkungsmacht ist mit dem volkstümlichen Wort „Rohrkrepierer“ zwar hinlänglich beschrieben, allerdings litt Berlin schon vor seinem Amtsantritt unter dem allgemeinen Verwaltungs-Versagen. Damit kleidet sich die kommende Staatskrise in das Gewand der Berliner Pannen und Pleiten. Da können sie in der Hauptstadt keinen Flughafen bauen und jetzt auch keine Wahlen organisieren. Lachen kann darüber schon niemand mehr, doch die meisten Berliner, so steht zu befürchten, nehmen auch das hin, wie alle Übel zuvor und der Rest der Republik schaut kopfschüttelnd zu.

Nur ist das Ausmaß der Staatskrise, in die das Land zu rutschen droht, in diesem Fall viel ernster. Und der Vergleich mit einem Staatsstreich ist durchaus angemessen, selbst wenn es am Anfang ein ungewollt aus Unfähigkeit geborener Staatsstreich sein sollte. Denken wir nur einmal darüber nach, was denn passiert, wenn es in Berlin tatsächlich am 18. September keine Wahlen gibt? Es gibt keinen Krisen-, Kriegs- und Katastrophenfall, mit dem sich der Notstand, der eine Wahlverschiebung noch legitimieren könnte. Den Notstand hat die politische Klasse selbst fabriziert. Und gerade dann Wahlen nicht durchführen zu können, wenn alle Parteien, die im Parlament sitzen, das Ergebnis fürchten, hat schon mehr als ein Geschmäckle. Das erinnert ein bisschen an gegenwärtige türkische Verhältnisse.

Welche Legitimität hätten die Entscheidungen einer kommissarischen Landesregierung noch? Kommissarische Landesregierungen gab es zwar schon in der deutschen Nachkriegsgeschichte, aber nur, weil das neu gewählte Parlament noch keine neue gewählt hatte. Dass es aber auch kein gewähltes Parlament mehr gibt, weil man die Wahlen ausfallen lässt, das ist in der Geschichte der Bundesrepublik ohne Beispiel. Und es ist auch keine auf die Hauptstadt begrenzbare große Provinzposse, sondern hebelt das politische System der Bundesrepublik aus.

Was wäre denn mit den Stimmen Berlins im Bundesrat? Sind dessen Entscheidungen noch rechtmäßig, wenn ein Bundesland weder über eine demokratisch legitimierte Regierung noch über ein gewähltes Parlament verfügt? Auch wenn man die Hauptstadt in Zwangsverwaltung des Bundes nehmen würde, wäre dieses Dilemma nicht gelöst. Dann wäre also jede Gesetzgebung, die der Zustimmung des Bundesrats bedarf, fürderhin blockiert?

Spinnen wir diesen Gedanken weiter: Wenn nun aber doch Entscheidungen anstehen, die nicht warten können, dann müssten doch die Deutschen Verständnis haben, wenn in dieser besonderen Situation die verfassungsmäßigen Regeln zur Gesetzgebung etwas großzügiger ausgelegt werden müssten, oder? Wer würde dagegen protestieren, zumal wenn es im konkreten Falle bestimmt um irgendeine Angelegenheit ginge, die eine Mehrheit der Deutschen entschieden haben will. Ob gewollt oder nicht, wir landeten auf leisen Sohlen in einem anderen Land. Es wäre die Auflösung der verfassungsmäßigen Ordnung. Nicht durch das planvolle staatsfeindliche Wühlen irgendwelcher Extremisten, sondern durch das verantwortungslose Agieren der politischen Verantwortungsträger, die dann wieder über ihr Volk jammern, weil es aus Verzweiflung zu Populisten und Extremisten abwandert.

Vielleicht gelingt es der Berliner Verwaltung ja, die Wahlen noch zu retten und wir alle gemeinsam erleichtert aufatmen. Oder vielleicht doch bei der Auszählung genauer hinschauen, jetzt, wo wir wissen, dass es ja damit nicht zum Besten bestellt ist? Eine Verschiebung des Wahltermins jedenfalls will man sich in Berlin nicht ausmalen. Wer weiß, wann dann überhaupt ein verlässlicher neuer Termin genannt werden kann.

Peter Grimm betreibt den Blog www.sichtplatz.de, auf dem dieser Artikel zuerst erschienen ist.