10.06.2016
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Die Agonie der Linken

Die Agonie der Linken
Über 150 Jahre stellte die Linke die Avantgarde der politischen Bewegungen – im Kern war sie stets ein Oppositionsprojekt. Heute erlebt sie ihren Niedergang: Auf die politischen Herausforderungen der Zeit reagiert sie mit den immergleichen Forderungen. Von Alexander Grau

Die politische Linke ist tot. Auf die politischen Herausforderungen der Zeit reagiert sie mit den immergleichen Forderungen nach Erhöhung der Sozialstandards, Ausbau des Wohlfahrtsstaates und dem Einfordern staatlicher Schutzräume für immer neue Minderheiten. Mehr intellektuelle Fantasielosigkeit war selten.

Dabei stellte die Linke über 150 Jahre die Avantgarde der politischen Bewegungen. Von der Französischen Revolution bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts entwarfen linke Vordenker Visionen moderner, freiheitlicher Gesellschaften. Linke politische Bewegungen artikulierten die Sehnsüchte großer gesellschaftlicher Gruppen nach Selbstbestimmung und Wohlstand. Linke Parteien kämpften gegen überkommene Strukturen und anachronistische Machtansprüche.

Kurz: Die Linke, Kommunisten und Sozialdemokraten, trieben die Machteliten vor sich her und nötigten sie zu Reformen, die die jeweiligen Gesellschaften erfolgreich und zukunftsfähig machten. Ohne die politische Linke gäbe es keine Moderne.

Die Krise der Linken

Die Krise der Linken begann in den 1970er Jahren. In den westlichen Industriegesellschaften hatte der Massenwohlstand ein Maß erreicht, das alles übertraf, was die Urväter der Arbeiterbewegung zu träumen gewagt hätten. Zugleich begannen sich in der westlichen Hemisphäre die letzten fest gefügten sozialen Rollenmuster aufzulösen. Das Konzept individueller Selbstverwirklichung wurde zum Leitmotiv persönlicher Lebensentwürfe. Die Linke hatte gewonnen – mission accomplished.

Ausdruck dieses gesellschaftlichen Wandels war die Machtübernahme sozialdemokratischer Parteien in Europa – symbolisiert durch Olof Palme, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Bruno Kreisky, später François Mitterrand und Felipe González. Dieser Triumph war der Anfang vom Ende.

Stets ein Oppositionsprojekt

Denn im Kern war die politische Linke stets ein Oppositionsprojekt, das seine Mentalität und Programmatik daraus gewann, Forderungen gegen herrschende Strukturen durchzusetzen. Ein plausibles, tragfähiges Konzept einer linken Politik aus einer eigenen Machtposition heraus und vor dem Hintergrund linker kultureller Hegemonie fehlte weitgehend. Gerade die akademisch geprägte Linke verlegte sich daher auf politische Esoterik und entfernte sich so von ihrer Verwurzelung in der Arbeiterbewegung.

Aber das ist nur eine Ursache für den Niedergang der politischen Linken. Der Hauptgrund für ihre intellektuelle Agonie liegt jedoch in der Verflechtung des linken Lebensgefühls mit ihrem weltanschaulichen Hauptgegner: dem Kapitalismus.


Ein willfähriger Erfüllungsgehilfe

Im Zuge der erfolgreichen Befreiung der Individuums aus tradierten sozialen Mustern machte sich die Linke zum willfährigen Erfüllungsgehilfen einer durchökonomisierten Gesellschaft und lieferte den intellektuellen Überbau für die Zerschlagung bürgerlicher Institutionen und Traditionen.

Ein Beispiel für diesen Sündenfall ist die Bildungspolitik. Im Namen von Chancengleichheit und sozialer Durchlässigkeit hat linke Bildungspolitik mit beachtlichem Erfolg alle Bastionen humanistischer Bildung geschliffen. Das Abitur wurde zum allgemeinen Schulabschluss degradiert, das Gymnasium ausgehöhlt und die Universitäten zu Massenausbildungsanstalten umfunktioniert. „Nutzlose“ Bildung wurde durch marktkonforme „Kompetenzen“ ersetzt.

Einer ähnlichen Logik unterliegt die linke Familienpolitik. Im Namen individueller Emanzipation wurde die traditionelle Familie diskreditiert mit dem Ergebnis, das Familienleben – und das Bild gelungener weiblicher Existenz – der Verwertungslogik des Arbeitsmarktes anzupassen.

Die Herrschaftsrhetorik des globalisierten Kapitalismus

Und auch das im Namen des Multikulturalismus gepflegte Ideal eines global verschieb- und austauschbaren Arbeits- und Konsumheeres deckt sich auf das Wunderbarste mit entsprechenden ökonomischen Interessen. Ein linkes Denken jedoch, das nichts anderes liefert als die Herrschaftsrhetorik des globalisierten Kapitalismus, hat seine eigene Bankrotterklärung unterschrieben.

In dieses Gesamtszenario passt, dass von der Linken apostrophierte Ideale wie die Aufhebung des Privaten von global agierenden Konzernen wie Google und Co. als progressives Leitbild übernommen wurden.

Freiheit, Humanität und Selbstbestimmung

In ihrem antibürgerlichen Furor und getragen von popkulturellem Hedonismus hat sich die Linke nach '68 gemein gemacht mit dem schlimmsten Gegner bürgerlicher Kultur – einem von bürgerlichen Normen befreiten Kapitalismus. Die Schnittmenge beider Ideologien liegt auf der Hand: die Vorstellung, eigentliches Menschsein liege jenseits biologischer Gegebenheiten, kultureller Überlieferung und tradierter Normen und verwirkliche sich ausschließlich im gegenwärtigen sozialen Kontext.

Aus Sicht der Linken war dieses Bündnis dennoch eine Mesalliance. Im Namen scheinbarer gesellschaftlicher Progressivität hat die politische Linke ihre zentralen Anliegen verraten: Freiheit, Humanität und Selbstbestimmung.

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Im Dezember 2014 erschien der von ihm herausgegebene Band „Religion. Facetten eines umstrittenen Begriffs“ bei der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig. Dieser Artikel erschien am 4. Juni 2016 in seiner Kolumne "Grauzone" bei Cicero Online.

Foto: Bayreuther Festspiele / Enrico Nawrath