05.02.2016
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Rettet die Spaßgesellschaft vor den Narren aus der Politik!

Rettet die Spaßgesellschaft vor den Narren aus der Politik!
Wenn der Karneval in Angst ertrinkt, vertrocknet die Gesellschaft. Von Matthias Heitmann

Ja, ich gebe es unumwunden zu: Mir fehlt das karnevalistische Gen. Meine Eltern (beide waschechte Berliner) schieden als biologische Quellen dieses Gens aus, und meine Heimatstadt Frankfurt am Main ist so semi-karnevalistisch, dass es mir als Kind problemlos möglich war, die tollen Tage ohne permanente Kostümierung und auch ohne daraus folgende Einsamkeitsdepression zu überstehen. Meine Integration in die Kultur des Karnevals misslang also gründlich. Während der fünften Jahreszeit bewege ich mich daher lieber in der entsprechenden Parallelgesellschaft.

Mein Verhältnis zu eingefleischten Karnevalisten ist ein bisschen wie das zu zerfleischenden Krokodilen: Wenn sie so richtig in Stimmung sind, begegne ich ihnen eher ungern. Dennoch finde ich es gut, dass es sie gibt, irgendwo. Aber es gibt natürlich auch Unterschiede zwischen Karnevalisten und Carnivoren: Wenn Krokodile aussterben, wird dies meinen Alltag nicht weiter berühren. Beim Karneval ist das etwas anderes: Wenn es den irgendwann nicht mehr geben sollte, dann hat das sehr wohl Einfluss auf mein Leben. Es fühlt sich komisch an, das so zu sagen, aber Karneval (oder Fassenacht oder Fasching) ist ein Indiz dafür, dass sich unsere Gesellschaft noch nicht zu Tode geängstigt hat. Ich muss aber auch gestehen: Ich mache mir Sorgen um den Karneval, denn er steht auf der roten Liste der gefährdeten Rituale der Freiheit und der Toleranz.

Denn eigentlich widerspricht der Karneval dem heutigen Zeitgeist aufs Schärfste, und zwar mit allem, wofür er steht: die Ausschweifung, das Unkontrollierte, das Wilde, das Ungestüme und Unvernünftige bis hin zum halben Kontrollverlust, das Übertreten der Grenzen des Anstands, das Verbergen der eigenen Identität, das Schlüpfen in andere Rollen, das absurde Experimentieren an den Rändern des guten Geschmacks, der offene Betrug und die Gaukelei bei dem gleichzeitig fast blinden Vertrauen in die egalitäre Gemeinschaft der Narren, aber auch die blanke schonungslose Ehrlichkeit, das offene und angstfrei ausgesprochene Wort, Spott und Hohn gegenüber den weltlichen und geistigen Herrschern und gegenüber sich selbst – all das ist den Verantwortungs- und Bedenkenträgern unserer Kultur der Risikovermeidung ein Graus.

Wer den Karneval gefährdet? Es sind jedenfalls nicht menschenverachtende, kriminelle und gewalttätige Migranten. Gegen diese muss sich die ihre eigene Kultur zelebrierende Spaßgesellschaft kompromisslos und robust zur Wehr setzen. Wenn aber bei aller Wachsamkeit der Spaß selbst unter die Räder der Fürsorge gerät, dann obsiegt die Angst und wird zu einem Perpetuum Mobile. Wir laufen Gefahr, aus Angst davor, dass jemand uns das Leben zur Hölle macht, uns das Leben zur Hölle zu machen.

Die nach den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht geplanten Sicherheitsmaßnahmen verheißen in dieser Hinsicht nichts Gutes: Der neue Kölner Polizeipräsident Jürgen Mathies hat angekündigt, alle Vorgänge des „Über-die-Stränge-Schlagens“ wie übertriebene Alkoholkonsum konsequent zu ahnden. Menschen, die mit „Waffenattrappen“ unterwegs sind, müssten mit Kontrollen rechnen. Sogar Wildpinkler will man empfindlicher zur Kasse bitten. Die erhöhte Polizeipräsenz wird – wie üblich – nicht das Sicherheitsempfinden erhöhen, sondern die Annahme in unseren Köpfen verankern, dass eine geringere Polizeipräsenz unsere Sicherheit gefährdet.

Das funktioniert – leider auch bei Narren: Am diesjährigen Frankfurter Faschingsumzug werden ein Prunkwagen und die Tanzgruppe der Stadt-Garde nicht teilnehmen. Als Grund gab die Vorsitzende, Stefanie Künstler, an, man fühle sich „einfach unwohl“. Sechs der 25 Teilnehmerinnen seien junge Mütter mit kleinen Kindern, und nach den Terroranschlägen der letzten Monate gehe unter den Damen nun die Angst um. „Wir feiern diesmal gemeinsam am Rand des Zuges“, heißt es aus der Garde. Das erscheint mir ebenso risikovermeidend zu sein wie die Verfolgung von Wildpinklern.

Ganz abgesagt wurde der Karnevalsumzug in Rheinberg am Niederrhein. Das dortige Ordnungsamt habe ein Sicherheitskonzept verlangt, das einem „gesteigerten Gefahrenpotenzial“ gerecht werde, was in der Kürze der Zeit nicht zu stemmen gewesen sei, hieß es zunächst aus Veranstalterkreisen. Die Nähe des Umzugs zu einer Flüchtlingsunterkunft mit rund 500 Bewohnern habe bei der Forderung nach einem neuen Sicherheitskonzept eine Rolle gespielt, sagte Jonny Strey, Fachbereichsleiter Sicherheit und Ordnung, der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Den Menschen in der Flüchtlingsunterkunft sei Karneval nicht vertraut. Sie könnten sich möglicherweise „falsch“ verhalten. Auch wenn mittlerweile vonseiten der Stadt dementiert wird, die Absage habe etwas mit einer durch Flüchtlinge beeinträchtigten Sicherheitslage zu tun, so ist dennoch auffällig, wie schnell man mittlerweile bereit ist, Veranstaltungen abzusagen.

Ich dachte bislang, beim Karneval gehe es genau darum, auch mal über die Stränge zu schlagen und Dinge zu tun, die man in den übrigen vier Jahreszeiten nicht tut. Ich dachte, es geht auch um Mut, um Aufmüpfigkeit, um vorsätzliche und freiheitsbegierige Unvernunft und ja, auch um das Eingehen von Risiken. Wenn wir das alles nur noch dann wollen, wenn wir uns vorher vergewissert haben, dass jedes Risiko ausgeschlossen ist, dann haben wir vergessen, worum es geht. Und dann sind wir wirklich Narren.

Matthias Heitmann ist Publizist, Redakteur der BFT Bürgerzeitung und Autor des Buches „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens (TvR Medienverlag, Jena 2015, 197 S., 19,90 EUR). Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de.