20.10.2015
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Pegida: Lasst sie stammeln

Pegida: Lasst sie stammeln
Der ängstliche Verbotsreflex der Gesellschaft ist der größte Trumpf von Pegida. Von Matthias Heitmann

Seit dem Auftritt von Akif Pirinçci anlässlich des geburtstäglichen Pegida-Spaziergangs durch Dresden am 19. Oktober 2015 kann man kopflose Erregungszustände aufgrund politischer Verwirrungen in einer neuen Einheit messen: 1 Pirinçci entspricht in etwa dem Aufwand, den man betreiben muss, um überzeugte Demokraten und selbsterklärte Freiheitsverteidiger dazu zu bringen, eben diese Freiheit zu opfern. Ein Pirinçci ist nicht viel, wenn man weiß, dass Verbotsforderungen weiten Teilen der liberalen und linken Öffentlichkeit schneller über die Lippen gehen, als ein Redner an einem Montagabend das Wort „KZ“ überhaupt hörbar aussprechen kann.

Die Organisatoren von Pegida haben das Spiel durchschaut. Dazu gehört nicht viel, denn das Ganze funktioniert in etwa so verlässlich wie der Kniesehnenreflex, bei dem ein leichter Schlag auf die Patellarsehne unterhalb der Kniescheibe zur erwarteten, unvermeidbaren Reaktion führt. So auch hier: Das reine Verlautbaren des Zwei-Buchstaben-Wortes – es können auch andere Reizbegriffe sein – reicht bereits, um die Erregungsmaschine in Gang zu setzen. Dabei ist es völlig unerheblich, in welchem Sinnzusammenhang Worte verwendet werden. Man braucht nur zwei Buchstaben, um die Meinungsfreiheit nachhaltig zu erschüttern und zu misshandeln. Einen Unterschied gibt es aber doch: Der Kniesehnenreflex geschieht unwillkürlich. Der Verbotsreflex hingegen kann durch unser Denken gesteuert werden.

Warum lassen wir es also zu, dass uns die Feinde der Freiheit vor sich her und in Richtung Unfreiheit treiben? Sind wir bei der Verteidigung von Demokratie und Menschlichkeit wirklich so tief gesunken und so desorientiert, dass schon eine ganz gezielt formulierte Provokation eines Berufsprovokateurs ausreicht, um die notwendige Debatte über Pegida, über fremdenfeindliche Tendenzen usw. in eine zensorische Richtung abzudrängen? Warum machen erklärte und vereidigte Demokraten die Drecksarbeit für Demokratiefeinde? Reicht es nicht aus, sich vor der Fäkalsprache à la Pirinçci einfach nur zu ekeln? Müssen wir sie auch noch zur Gefahr stilisieren, der wir die unheimliche Macht zuschreiben, wie mit Geisterhand aufrechte und einfach nur besorgte Bürger in rechtsradikale Gewalttäter zu verwandeln? Müssen wir uns durch dieses Geschwurbel wirklich verletzt fühlen? Und glauben wir wirklich, dass dieses Gestammel Pegida zum Sieg verhelfen wird?

Wer Journalisten attackiert und „Lügenpresse“ skandierend durch die Straßen zieht, kann sich eigentlich nur schwer als Verfechter der Meinungsfreiheit darstellen. Doch genau das passiert heute: Die Spazierbewegung brüstet sich damit, Opfer von Zensur zu sein und die Meinungsfreiheit „des Volkes“ hochzuhalten. Dass dieser Etikettenschwindel tatsächlich funktioniert, haben sie der Reaktion der breiten Öffentlichkeit und der Medien zu verdanken. Denn anstatt diesen erbärmlichen Opferkult einfach ins Leere laufen zu lassen, wird er durch immer neue Sprachverbote gefüttert, durch „wohlmeinende“ Zensur gepäppelt, durch Verurteilung von Geschmacklosigkeiten gestärkt, durch Anklagen wegen Volksverhetzung aufgewertet, kurzum: durch die Angst vor dem gesprochenen und geschriebenen Wort, dem die Gesellschaft angeblich nichts entgegenzusetzen hat, gemästet.

Ähnlich wie die Montagsdemonstranten verteidigen die Mainstream-Demokraten immer nur die Meinungsfreiheit derer, die ihre Ansicht teilen. Das Problem ist nur: Wer das tut, handelt antidemokratisch und bringt damit seine Geringschätzung gegenüber den Bürgern offen zum Ausdruck. Die Menschen spüren das und reagieren zunehmend allergisch auf diese Bevormundung. Pegida vertritt nur einen kleinen Ausschnitt der Gesellschaft, kann aber aus dem breiten Politikverdruss und der zunehmenden Unruhe angesichts der sich verschärfenden politischen Krise in Europa Sympathien auf sich vereinen. Und so wird der sich nur mit Verboten zu helfen wissende und daher hilflose Einsatz gegen unbequemes Gedankengut schnell zu einem gefundenen Fressen für die „unterdrückte Minderheit“ von Lutz Bachmann & Co. Sie hätten es gar nicht besser erfinden haben: Die Märtyrerproduktion läuft auf Hochtouren – und auf Knopfdruck. Und wann immer man einen neuen Märtyrer braucht, dreht man einfach den eigenen Provokationslevel um 1 Pirinçci hoch, und der Rest läuft wie geschmiert.

Wenn wir es mit unserer Demokratie und der Meinungsfreiheit wirklich ernstnehmen, dann muss sie auch für diejenigen gelten, denen man nicht zuhören will. Das ist kein Zugeständnis an Freiheitsfeinde, im Gegenteil: Lasst sie reden und hört auf, ihnen Futter und Märtyrer frei Haus zu liefern. Zwingt sie in den offenen Wettbewerb der Argumente und der Ideen, entzaubert sie, vertreibt sie aus ihrer bequemen wutbürgerlichen Schmollecke und liefert sie ihrer eigenen inhaltlichen Erbärmlichkeit aus! Wir können es uns leisten, Pegida laufen und Pirinçci reden zu lassen, denn nichts bringt ihnen mehr Zulauf und radikalisiert sie stärker als unsere ängstliche Obsession. Wenn wir uns diese Besessenheit sparen, behandeln wir die montäglichen Spaziergänger so, wie es ihnen zusteht und wie sie sich selbst darstellen: als montägliche Spaziergänger.

Pirinçci oder Bachmann sollen auch weiterhin das Recht haben, ihre unterirdischen Standpunkte zu vertreten. Man tut ihnen einen Gefallen, wenn man ihnen dieses Recht entzieht. Eine freie Gesellschaft, die selbstbewusst zu ihren Werten steht, ist so viel stabiler und attraktiver als jede noch so obskur zusammengezimmerte wutbürgerliche Angst- und Opferkultur. Dass uns die Politik das Gegenteil erzählt und die Notwendigkeit von Verboten verkauft, entlarvt sie als kaum weniger freiheitsfeindlich: Wer der eigenen Wahlbevölkerung nicht über den Weg traut und ihr aufgrund von einigen Hasspredigern (ob als Retter des Abend- oder des Morgenlandes unterwegs, ist hier zweitrangig) „der Sicherheit“ wegen kollektiv den Mund verbietet, kann kein Partner im Kampf gegen freiheits- und menschenfeindliches Denken sein. Ein Pirinçci ist eine sehr kleine Maßeinheit, und seine Auswirkungen auf unsere Freiheit sind minimal verglichen mit dem Einfluss derer, die meinen, uns zum Wohle der Sicherheit umerziehen zu müssen.

Matthias Heitmann ist freier Journalist, Redakteur der BFT Bürgerzeitung und Autor des Buches „Zeitgeisterjagd. Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“. Seine Website finden Sie unter www.zeitgeisterjagd.de.