Freitag, 19. April 2024

01.10.2015
| Politik | 0 | Drucken

Das Problem sind nicht die Flüchtlinge, sondern die Feiglinge!

Das Problem sind nicht die Flüchtlinge, sondern die Feigling...
Die Debatte über Migration muss dringend und sehr grundlegend geführt werden. Doch die Politik scheut die Auseinandersetzung und missbraucht die Flüchtlinge als menschliche Schutzschilde. Von Matthias Heitmann

Chaotische Bilder von den Grenzübergängen und aus den Flüchtlingsunterkünften, dazu in ganz Europa Regierungen, die ein nicht minder wirres Bild abgeben: Da ist es nur nachvollziehbar, dass Menschen es langsam mit der Angst zu tun bekommen. Ebenso wenig verwundert es, dass angesichts des Eindrucks der völligen Überforderung viel über die „Belastungsgrenzen“ einer Gesellschaft gesprochen wird. Ich bin ein überzeugter Anhänger einer möglichst liberalen Einwanderungspolitik, aber ich weigere mich, die Menschen, die der Masseneinwanderung skeptisch gegenüberstehen, pauschal als ausländerfeindlich zu verurteilen. Denn tatsächlich legen sie häufig ihre Finger in die Wunden, die von der Politik nur notdürftig mit Trostpflästerchen verklebt und mit heuchlerischen Phrasen à la „Wir schaffen das schon“ weggebetet werden sollen.

Natürlich kann Migration enorme Probleme mit sich bringen. Etwas anderes zu behaupten oder dies zu leugnen, wäre naiv und gefährlich. Doch genauso, wie ich mich weigere, die Migrationskritiker pauschal in eine rechtsradikale Ecke zu stellen, so weigere ich mich auch, Flüchtlinge, egal in welcher Anzahl, pauschal als Bedrohung für die hiesige Kultur anzusehen, auch dann, wenn sie anders denken und leben als ich. Muslime müssen Miniröcke nicht gut finden. Aber sie müssen sie aushalten – nichts anderes bedeutet das Verb „tolerare“. Diese Forderung macht aber natürlich nur dann Sinn, wenn sich im Gegenzug Nichtmuslime nicht über jede verschleierte Frau aufregen. Diese Unterschiede müssen ertragen werden – auf beiden Seiten.

Diejenigen, die Freiheit und Toleranz für sich reklamieren, müssen eben diese Wertvorstellungen offensiv verteidigen und selbst vorleben – und zwar gegenüber anders denkenden Menschen, mindestens aber genauso entschieden gegenüber politischen Akteuren, die zu offener Intoleranz aufrufen oder aber zugunsten einer vermeintlichen gesellschaftlichen Stabilität Freiheitsrechte einzuschränken bereit sind. Dieses Zaudern und Zurückweichen angesichts zu erwartender Konflikte ist gefährlich, denn es schafft sowohl bei den Einheimischen als auch bei den Ankommenden einen verzerrten Eindruck von der deutschen Wirklichkeit: Es ist daher die völlig falsche Reaktion, zur Vermeidung von Konflikten präventiv das Tragen durchsichtiger Tops oder Blusen, kurzer Shorts oder Miniröcke verbieten zu wollen, wie es kürzlich an einem bayerischen Gymnasium geschehen sollte. Diese Tendenz, die eigenen Werte der Freiheit und der Toleranz um eines scheinheiligen Friedens willen zu opfern, ist für die deutsche Gesellschaft viel problematischer als jeder noch so hasserfüllte Hinterhof-Mullah.

Die Befürchtungen in Bezug auf die sehr unkontrollierte, stümperhafte, kurzsichtige und planlose Unterbringung von Asylbewerbern sind berechtigt, weil die Menschen vor Ort mit der entstehenden Situation alleingelassen werden. Es ist verständlich, wenn sich in 5000-Seelen-Provinzstädtchen, in denen plötzlich über Nacht 1000 Flüchtlinge in leer stehende Kasernen abgeladen werden, Bürger und Verantwortungsträger organisatorisch überfordert sowie politisch übergangen fühlen. Dazu zu tendieren, die Ursache der Krise an den Flüchtlingen festzumachen, liegt dann nahe, auch wenn es falsch ist. So zu tun, als reiche allein guter Wille und ein bisschen ehrenamtliches Engagement aus, um die Gesellschaft auf diese Herausforderung einzustimmen und diese zu meistern, ist menschenverachtend und verantwortungslos. Eine Politik, die in einer solchen Lage die Menschen vor vollendete Tatsachen stellt und sich nicht traut, die wirklich entscheidenden kontroversen Diskussionen direkt und vor Ort zu führen, handelt feige und behandelt Flüchtlinge wie menschliche Schutzschilde.

Es ist so leicht und wohlfeil, sich im Nachhinein über das sogenannte „Dunkeldeutschland“ zu erregen und darüber, dass sich bedroht und übergangen fühlende Bürger der staatlich angeordneten Willkommenskultur widersetzen. Wenn man aber vorher jahrelang konsequent der grundlegenden Auseinandersetzung darüber aus dem Weg geht, wie sich die Gesellschaft angesichts von Kriegen und Krisen in und am Rande Europas zu Fragen der Migration verhalten soll, braucht man sich nicht darüber wundern, wenn sich die Menschen nicht spontan den kurzfristigen Bedürfnissen der Politik anpassen.

Es liegt auf der Hand, dass die Debatte über Migration dringend und sehr grundlegend geführt werden muss. Und sie sollte weit über die Frage nach Belastungsgrenzen und Zuzugszahlen hinausgehen: Seit Jahren werden in der deutschen Öffentlichkeit die Menschen in und aus Krisenregionen entweder als gefährliche Träger unzivilisierter und zu Freiheit und Demokratie unfähiger Kulturen dargestellt, oder aber man führt sie uns als unschuldige, aber auch zu positiven Beiträgen und Leistungen unfähige Opfer vor, die unseres Mitleids bedürfen. Ob Kriminalisierung von rechts oder die opferzentrierte Mitleidskultur von links – beide Strategien enden in einer Stigmatisierung, der zufolge Migranten als betreuungsintensive Gruppen gelten, deren „Integration“ für jede Gesellschaft eine enorme Last darstellt.

Gewinner in diesem Vorurteils-Pingpong ist die staatstragende Politik, da sie sich immer als Retter aufspielen kann, je nachdem, was gerade politisch angesagt ist: entweder als Retter der eigenen Kultur vor den rückständigen Flüchtlingen (durch Kasernierung), oder als Retter der Flüchtlinge vor den rückständigen Auswüchsen der eigenen Kultur (durch polizeiliche Bewachung der Kasernierten). Verwundert es da, dass in der jetzigen Debatte über die Aufnahme von Flüchtlingen immer nur von Belastungsgrenzen und Gefahren die Rede ist? Menschen erscheinen in dieser Weltsicht grundsätzlich als Belastung – sowohl die ankommenden, weil die nichts können und leisten, als auch die Einheimischen, weil die nichts aushalten und tolerieren. So bequem ist Politik, wenn sie sich auf das Bedienen und Reproduzieren von Vorurteilen und Ängsten beschränkt.

Und weil Menschen gleich welcher Herkunft seit Jahren so dargestellt und behandelt werden, ist auch die vorherrschende Schlussfolgerung immer dieselbe: Die zivilisierte und humanitäre Elite des Westens muss den Völkern der Dritten Welt, im Nahen Osten, in Afrika, aber auch auf dem Balkan Frieden, Demokratie und Wohlstand bringen und beibringen, denn allein sind sie dort dazu nicht in der Lage. Aber dieses Menschenbild gilt nicht nur für die Menschen dort – es gilt auch für die Bürger hierzulande: Diesen ist ebenfalls nicht über den Weg zu trauen, weshalb man ihnen weder echte Meinungs- noch Wahlfreiheit gestattet. Die undemokratischen Strukturen der Europäischen Union sind der zementierte Beleg dafür, dass die führenden Politiker des Kontinents von den „Insassen“ der Festung Europa nicht sehr viel mehr halten als von denen, die es werden wollen.

Dies ist der Hintergrund, vor dem in Europa seit Jahrzehnten Politik gemacht wird. Diese Politik hat über Jahrzehnte diktatorische Regime im Nahen Osten und in Nordafrika erst herangezüchtet und finanziert, um sie dann fallen- und einstürzen zu lassen und sich anschließend darüber zu wundern, dass sich in den Ruinen der Diktaturen Terroristen einnisten und die Menschen das Weite suchen. Es ist diese Politik, die dann Tausende dieser Menschen jährlich im Mittelmeer ertrinken lässt, dafür Schlepperbanden verantwortlich macht und gegen diese militärisch vorgeht, anstatt sichere Fluchtwege einzurichten.

Es ist auch dieselbe Politik, die seit vielen Jahren Hunderttausende Menschen auf dem Balkan in undemokratischen Protektoraten „verwaltet“ und mit „Schutztruppen“ bewacht, ohne dass dort auch nur minimale Chancen auf Mitbestimmung oder irgendwelche Perspektiven auf gesellschaftliche oder wirtschaftliche Verbesserung entstehen könnten. Diese Menschen dann, wenn sie verzweifelt ihre Sachen packen, als Wirtschaftsflüchtlinge und kriminelle Schmarotzer zu brandmarken und ihnen „legale Fluchtgründe“ abzusprechen, zeugt von einer abenteuerlichen Weltfremdheit. Eine solche Politik prägt und schürt selbstverständlich auch die Sorgen und Ängste der hier lebenden Menschen – selbst dann, wenn große Teile der Bevölkerung direkt oder in der Elterngeneration einen Fluchthintergrund haben.

Angesichts dieses politischen Klimas ist es ein positives Zeichen, wenn sich viele Menschen um das Schicksal der hier ankommenden Flüchtlinge sorgen. Dieser Instinkt zu menschlichen Nothilfe ist gerade nicht gleichzusetzen mit der naiven und kollektiven Willkommenskultur, wie sie Bundeskanzlerin Merkel gerne im EU-Ausland vor sich herträgt, um moralische Überlegenheit zu demonstrieren. Es geht nicht darum, dass man sich über jeden einzelnen Flüchtling freuen muss, der hier ankommt. Es hat durchaus hysterische Züge und ist auch ein wenig verlogen, anrollenden Flüchtlingsbussen zu applaudieren und deren Insassen mit Altkleidern, Teddybären und Sandwiches zu überhäufen, sich aber gleichzeitig über die deutsche „Unterklasse“ zu ereifern und Hartz-IV-Empfänger pauschal als Drückeberger abzustempeln. Zuweilen hat man gerade bei politisch grün und linksliberal orientierten „Willkommensgrüßlern“ den Eindruck, ihre Sympathie für Migranten sei in erster Linie ein Ventil, um die Abscheu gegenüber den eigenen Landsleuten kollektiv ausleben zu können. Sowohl Gefühlsduselei als auch Misanthropie sind keine sinnvollen Argumente für die Aufnahme von Flüchtlingen, im Gegenteil: Damit drückt man sich vor der notwendigen inhaltlichen Auseinandersetzung.

In einer solchen Debatte sollte es darum gehen, mit den Menschen darüber zu diskutieren, ob die sich nach Europa ergießenden Flüchtlingsströme wirklich die Ursache der Krise sind, oder ob sie nicht eher die politische Krise Europas nur besonders greifbar machen und selbst Konsequenzen dieser Krise sind. Die Menschen aus Syrien, die vor dem Assad-Regime und vor islamistischen Terroristen fliehen, haben ein Recht auf Schutz. Wenn das europäische Verwaltungsgebilde namens EU nicht imstande und willens ist, diese grundlegende menschliche Wertvorstellungen umzusetzen, ohne politisch zu zerreißen und die letzten Reste demokratischer Strukturen zu zerstören, dann sollten die Europäer anfangen, darüber nachzudenken, ob diese Form der politischen Organisation noch zukunftsfähig ist. Wir europäischen Bürger sollten den politischen Feiglingen in unseren Hauptstädten nicht den Gefallen tun, uns gegeneinander und uns gegen die Flüchtlinge ausspielen zu lassen. Unser Problem sind nicht die Flüchtlinge, unser Problem sind die Feiglinge!

Matthias Heitmann ist freier Publizist, Redakteur der BFT Bürgerzeitung und Autor des kürzlich erschienenen Buches „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“. (TvR Medienverlag, 197 S., EUR 19,90). Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de.


Kommentar schreiben


Sicherheitscode
Aktualisieren


Facebook Kommentar