17.09.2015
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Politik auf der Flucht

Politik auf der Flucht
Die europäische Flüchtlingspolitik zeigt, dass sich Inhalts- und Prinzipienlosigkeit nicht auf Dauer als „alternativlos“ vermarkten lassen. Von Matthias Heitmann.

In der Europäischen Union regiert die „Politik der Alternativlosigkeit“: Sie überzeugt nicht durch gute Argumente im Sinne einer erwünschten Entwicklung, sondern sie handelt gemäß eigens definierter „notwendiger Zwangsläufigkeiten“. Streng genommen gibt es in Brüssel keine „Politiker“ mehr, sondern nur noch „Zwangsläufigkeitsverkünder“: Sie ähneln eher Predigern, die von der Kanzel herabsprechen, abkanzeln sozusagen, wie Kanzler eben, oder -innen.

Viele Menschen haben sich in den letzten Jahren mit dieser Rollenverteilung arrangiert, weil sie darauf bauen, dass so noch am ehesten Stabilität erreicht werden könne. Das gefällt den Kanzelnden: Das bewusst gläubig gehaltene Politikpublikum bemerkt so manche Kursänderung gar nicht, sein Blick ist stets an den vor ihm liegenden Horizont geheftet, während es das letzte alternativlos gesetzte (und verfehlte) Ziel der Odyssee schon wieder vergessen hat.

Wendig, effizient, leer und undemokratisch

Doch der Glaube an die „Alternativlosigkeit“ lässt sich nicht auf Dauer erzwingen: Denn tatsächlich liefert sie eine erstaunliche Fülle von Alternativen – doch nicht gleichzeitig, wie man es von demokratischen Auswahlprozessen gewohnt ist, sondern nacheinander geschaltet. Mit der Zeit und bei Zunahme der Geschwindigkeit, in der diese Zwangsläufigkeiten einander die Klinke in die Hand geben, fällt das den Menschen auf.

Die mittlerweile zu beobachtende Rasanz, mit der diese Kurswechsel in Europa vollzogen werden, kannte man bislang vor allen Dingen aus diktatorischen Systemen, in denen der heute abgeschlagene Diktatorenkopf tags darauf bereits nie existiert hatte. In demokratisch geprägten Strukturen hingegen war man bislang diese Beschleunigung nicht gewöhnt. Manch einer mag diese Sprunghaftigkeit als Indiz für eine neue demokratische Lebendigkeit werten. Mehr spricht jedoch dafür, die wachsende Wendigkeit von Politik auf den fortschreitenden Substanzverlust sowie auf die hermetische Abkopplung der Vollzugseliten vom demokratischen Souverän zurückzuführen.

Politische Beben

Beispiele für derartige Politik-Beben gab es in den letzten Jahren einige: Gerade erst hatte die erste Merkel-Regierung die Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke verlängert, als im März 2011 am anderen Ende der Welt ein Unterwasserbeben eine Flutwelle auslöste, die Zehntausende Menschen tötete und im japanischen Ort Fukushima ein Kernkraftwerk schwer beschädigte. Diese Beschädigung forderte glücklicherweise keine zusätzlichen Todesopfer, löste aber in Deutschland ein verheerendes Angstbeben aus: Binnen weniger Tage unternahm die Regierung Merkel eine abrupte Neubewertung der „Zwangsläufigkeiten“: Die bis dahin gültige und wissenschaftlich fundierte energiepolitische Strategie wurden durch den eben noch verstaubt in der Mottenkiste liegenden Atomausstiegplan ersetzt.

Das Austauschen absoluter Wahrheiten durch neue hatte bereits mit dem Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise und insbesondere im Zuge der Griechenlandkrise an Rasanz zugelegt. Das Bekanntwerden immer neuer Krisendaten machte das rechtzeitige Anpassen der alternativlosen Zwangsläufigkeiten zu einem immer gehetzteren Blinde-Kuh-Spiel: Gestern noch unzweifelhafte Formulierungen und Beteuerungen waren nun plötzlich so weder ausgesprochen noch gemeint worden, um der neuen Alternativlosigkeit ein wenig mehr Spielraum zu verschaffen, während die nächste bereits hinter verschlossenen Türen vorbereitet wurde usw. usf. Das alles geschah vor den Augen der zunehmend beunruhigten und skeptischen europäischen Öffentlichkeit, deren Gefühl der Abscheu langsam historische Ausmaße anzunehmen begann.

Projekt Selbstzerfleischung

In der europäischen Flüchtlingspolitik zeigt sich diese Spirale der Beschleunigung und Abkapselung des politischen Prozesses in drastischer Art und Weise. Die Flüchtlinge werden unfreiwillig zu Katalysatoren einer für Friedenszeiten beispiellosen europäischen Selbstzerfleischung. Für die Friedensnobelpreisträgerin von 2012, die Europäische Union, ist selbst das Einhalten zivilisierter Mindeststandards im Umgang mit Menschen demokratisch nicht umsetzbar und offensichtlich auch nicht erstrebenswert. Oder anders formuliert: Zur Menschenverachtung – egal ob Flüchtlinge oder EU-Bürger betreffend – gibt es in der EU keine Alternative!

Da der Eindruck der vollständigen politischen Lähmung natürlich vermieden werden soll, will man nun in Brüssel und Berlin die unwilligen europäischen Partnerländer zur Aufnahme von Flüchtlingen und somit „zur Menschlichkeit zwingen“. Anders scheint man sich Politik heute nicht mehr vorstellen zu können. Gleichzeitig gefallen sich europäische Spitzenpolitiker damit, die Einwanderung aus fremden Kulturkreisen als Gefahr für die Zivilisation Europas darzustellen. Der moralische Offenbarungseid ist perfekt: Wer die EU so vor dem politischen Untergang retten will, stößt sie selbst in den Abgrund. Menschliches politisches Handeln hat längst die Flucht ergriffen, an seine Stelle rücken Panik, Vorurteile und Hass.

Deutscher Eliteninfarkt

Federführend in Sachen Orientierungslosigkeit ist einmal mehr Deutschland: Angela Merkels Flüchtlingsgeschacher der letzten Wochen ist ein besonders drastisches Beispiel dafür, welche katastrophalen und menschenverachtenden Folgen politische Richtungslosigkeit haben kann: Binnen Wochenfrist führte sie das Land von „offenen Grenzen“ für syrische Kriegsflüchtlinge zur Wiedereinführung von Grenzkontrollen und der faktischen Abschaffung der Personenfreizügigkeit von Menschen in Europa.

Im Umgang mit der Krise erwies sich der deutsche Staat auf allen Ebenen als unfähig, politisch durchdacht zu handeln. Anstatt für gemeinsame Anstrengungen zu werben, beschränkte sich die Bundesregierung auf Appelle an die Bevölkerung und auf halbseidene Managementratschläge. Selbstverständlich unterstützte man dadurch weder die Helfenden, noch beruhigte man die Besorgten oder konfrontierte die Hetzenden, dazu fehlte in Berlin der Mut: zu groß waren die internen Differenzen und zu sehr fürchtete man die öffentlichen Debatten. Lieber sonnte man sich in der „Willkommenskultur“ und begann, diese für eigene Interessen auszuschlachten. So einfach ist Politik, wenn man sie aufgibt!

Dabei wäre gerade beim Thema Einwanderung parallel zu wirksamer Soforthilfe eine intensive und harte öffentliche Auseinandersetzung um politische Inhalte zwingend erforderlich. Schließlich beruhte die gesamte politische Tradition in Nachkriegsdeutschland seit den 1960er- und 1970er-Jahren darauf, Nichtdeutsche als „Gäste“, „Gastarbeiter“ oder aber, wenn sie nicht wieder heimgehen wollten, als Mitglieder fremdartiger Parallelgesellschaften zu sehen und sie auch bis heute so zu behandeln – eine Umgangskultur, die in den vermeintlich fortschrittlichen Vorstellungen von der Multi-Kulti-Gesellschaft eine fatale Fortschreibung fand. Eingedenk dieses politischen Erbes hätte es gerade einer konservativen Regierungspartei gut zu Gesicht gestanden, sich selbst erst einmal über einen den Kurs und dessen Konsequenzen klar zu werden, bevor man dies von einer verunsicherten Bevölkerung einfordert.

Symbolpolitik: menschenverachtende Ahnungslosigkeit

Aber selbst im Management der spontanen Hilfsbereitschaft stieß der Staat schnell an seine Grenzen: Während man sich an der Basis als bürokratischer Hemmschuh präsentierte, schoss man sich auf diejenigen ein, die – in bundesrepublikanischer Tradition – zu übersteigerten Willkommensgesten nicht bereit waren. Auf seinem öffentlichkeitswirksam arrangierten Besuch eines Flüchtlingsheims ging es Bundespräsident Joachim Gauck nicht um das Schicksal der Menschen, sondern darum, Andersdenkende mit Randalierern in einen Topf zu werfen und sie zu Vertretern von „Dunkeldeutschland“ zu erklären. So forciert man die Zuspitzung gesellschaftlicher Konflikte auf dem Rücken von Flüchtlingen.

Weiter angefacht wurde diese Emotionalisierung durch den überraschenden Beschluss der Regierung, die Grenzen für die in den sicheren Drittstaaten Ungarn und Österreich festsitzenden Flüchtlinge zu öffnen. Dieser Beschluss erging nicht, weil man die Behörden an der Basis hierauf vorbereitet, die politische Debatte innerhalb der Koalition beendet oder gar das Argument in der eigenen Bevölkerung gewonnen hatte. Es ging der Kanzlerin allein darum, ein außenpolitisches Signal an diejenigen Staaten zu senden, die es durch die eigene Abschottung gegenüber Flüchtlingen Deutschland erst ermöglicht hatten, sich an seiner eigenen Willkommenskultur zu ergötzen. Die innenpolitischen Folgen dieses Entschlusses waren fatal: Selbst in engagierten Helferkreisen begann sich Widerstand gegen die nunmehr unkontrolliert „einströmenden“ Flüchtlinge und gegen die unhaltbare Situation vor Ort zu regen.

Anstatt aber nun mit eindeutigen Aussagen, entschlossenen Maßnahmen und klaren politischen Standpunkten für Vertrauen an der Helferbasis zu sorgen, scheute Merkel erneut die notwendige Auseinandersetzung und ließ die Menschen allein: Mehr als die Beteuerung, dass man „das schon schaffen“ werde, sowie die herablassende Bemerkung, dass regelmäßige Kirchgänge ein gutes Mittel gegen die Angst vor der Islamisierung seien, kam ihr nicht über die Lippen. Mehr wäre jedoch auch nicht glaubhaft gewesen: Denn kurz darauf schloss die Regierung dann doch die Grenzen, weil nunmehr, wie es hieß, das Ende der deutschen Aufnahmebereitschaft erreicht sei und jetzt die unwilligen Staaten Europas an der Reihe seien.

Anders formuliert: Die Flüchtlinge müssen nun draußen bleiben, da sonst unsere schöne und im Ausland so populäre Willkommenskultur Schaden nimmt. So menschenverachtend ist Politik, wenn sie nur symbolischen Wert haben soll. Dass in einer solchen Krise der politischen Verantwortung dann ausgerechnet der Chef des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, Manfred Schmidt, „aus persönlichen Gründen“ zurücktritt, können nur unverbesserliche Naivlinge als zufällige zeitliche Koinzidenz abtun.

Humanistische Flüchtlingspolitik: Dieses Bild ist in Europa (nicht) verfügbar

Die aktuelle politische Realität in Europa macht es schwer, in der Flüchtlingspolitik eine humanistische Position einzunehmen und zu verteidigen. Natürlich muss ein wesentlicher Bestandteil einer solchen Position sein, das Recht auf Freizügigkeit um jeden Preis zu verteidigen, und zwar nicht nur für EU-Bürger, sondern für jeden Menschen. Ohne die Öffnung von Grenzen ist dieses Recht nicht zu verteidigen.

Andererseits wäre es unehrlich, so zu tun, als könnten die Gesellschaften Europas in ihrer jetzigen Verfassung ohne verrammelte Grenzen so weitermachen wie bisher. Wenn die Strukturen der Gesellschaften und der Staaten Europas aber nicht einmal diese Grundbedingung für ein menschliches Leben in Würde und Freiheit garantieren können, dann müssen wir uns die Frage stellen, ob diese Strukturen dazu geeignet sind, die Herausforderungen der Zukunft in einer menschlichen Art und Weise zu meistern, oder ob wir die Form, in der wir uns organisieren, nicht ganz neu denken müssen.

Das mag für manche utopisch klingen. Andererseits: Wenn das Ziel, Flüchtlingen aus Krieg und Armut zu helfen, utopisch sein soll, dann ist nicht das „utopische Ziel“ das Problem, sondern der unerträgliche und angeblich „alternativlose“ Status quo, der nicht nur flüchtende Menschen am liebsten erneut vertreiben würde, sondern auch das politische Denken und Handeln in die Flucht schlägt. Es wird höchste Zeit, dies wieder nach Europa zurückzuholen. Wir brauchen eine Willkommenskultur – für Menschen, für freies politisches Denken und für demokratisches Handeln!

Matthias Heitmann ist freier Publizist und Redakteur der BFT Bürgerzeitung. Kürzlich ist im TvR Medienverlag sein Buch „Zeitgeisterjagd. Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ erschienen. Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de.