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14.07.2015
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Von wegen EU-Staatsstreich: Syriza „putscht“ gegen das eigene Volk

Von wegen EU-Staatsstreich: Syriza „putscht“ gegen das eigen...
Alexis Tsipras lernt schnell: Für Regierungen, die sich vor dem Wählervotum oder vor dessen Umsetzung fürchten, ist die Europäische Union der ideale Rettungsschirm. Von Matthias Heitmann

Seit der „Einigung“ zwischen dem griechischen Premierminister Alexis Tsipras und den Geldgebern von EU und IMF macht in den sozialen Netzwerken und auf Twitter die Rede vom Staatsstreich gegen Griechenland die Runde. Der Hashtag #thisisacoup wurde binnen kürzester Zeit zu einem geflügelten Schlagwort. Die Aufregung darüber, dass sich die Politik der Europäischen Union nicht vom Wählerwillen leiten, irritieren oder beeinflussen lässt, ist jedoch entweder unglaublich vergesslich oder atemberaubend naiv. Denn eigentlich wissen wir seit Jahren aus eigener Erfahrung: Demokratische Wahlen und Referenden werden in Brüssel wie eine Art Sandkasten-Demokratie-Spiel betrachtet. Schon vergessen? Wann immer in den letzten Jahren die Bürger versuchten, sich in Wahlen gegen die EU-Spar-, Kontroll- oder Regulierungspolitik zu wehren, wurde dies geflissentlich ignoriert. Und dabei handelte die EU äußerst egalitär, um nicht zu sagen antirassistisch: Es war ihr nämlich egal, in welchem Land die Bürger sich gegen sie erhoben, sie wurden alle gleich behandelt – und ignoriert.

Als sich im Mai Jahr 2001 die Iren erlaubten, das Abkommen von Nizza nicht per Volksabstimmung zu ratifizieren, wurde von Brüssel aus so viel Druck auf die irische Regierung ausgeübt, bis diese das Volk nach einer intensiven medialen Bearbeitung im Oktober 2002 kurzerhand wieder an die Urnen zitierte. Dieses Mal endete die Abstimmung mit einem für Dublin wie auch Brüssel genehmen Ergebnis. Als drei Jahre später die Europäer frei über den Vertrag für eine Verfassung für Europa entscheiden sollten, nahmen die Holländer und die Franzosen das mit der „freien Entscheidung“ ein wenig zu wörtlich und lehnten dankend ab. Das hinderte Brüssel aber natürlich nicht daran, das gesteckte politische Ziel weiterzuverfolgen. 2008 wurde das Projekt als „Vertrag von Lissabon“ erneut zur Abstimmung gestellt. Wieder waren es die Iren, die sich nicht an das ungeschriebene Gesetz hielten, demzufolge sich Europäer gefälligst den Plänen der europäischen Einigung zu unterwerfen haben.

Das Ignorieren des Wählerwillens aufseiten der EU ist also keine neue Entwicklung, und jeder, der sich nun darüber ereifert, dass sich Brüssel nicht um den armen Griechen auf der Straße sorgt, sollte sich seiner eigenen Erfahrungen mit der EU-Politik entsinnen. Und dennoch stellen die Ereignisse der letzten Tage eine weitere Zuspitzung der Wählerentmündigung dar. Diese Zuspitzung geht dieses Mal allerdings nicht von Brüssel aus – von dort ist man seit Jahren nichts anderes gewohnt, und dort bemüht man sich auch gar nicht, das eigene Handeln als demokratisch legitimiert zu verkaufen. Nein, in diesem Falle geht die Zuspitzung von der griechischen Syriza-Regierung aus, die sich zunächst als Gegnerin der undemokratischen EU-Politik darstellte, um dann in noch eklatanterer Weise das eigene Volk zu verraten.

Mit ihrer Wahl im Januar und erst mit dem kürzlich abgehaltenen Referendum wurde der Tsipras-Regierung von den griechischen Wählern eine eindeutige politische Vorgabe gemacht: Nach vielen Jahren einer die Menschen an den Rand der Armut drängenden Sparpolitik sollte die neue Regierung alles tun, um weitere Verschärfungen der Sparmaßnahmen zu verhindern. Entsprechend ließ sich Tsipras als linker Verteidiger der kleinen Leute und als Kämpfer gegen Euro-Kapitalismus und EU-Fremdherrschaft in der griechischen Öffentlichkeit feiern, um dann nach Brüssel zu reisen und nach einem Verhandlungsmarathon mit einem „Agreekment“ nach Hause zu kommen, dass noch weitergehende Spar- und Kontrollmaßnahmen beinhaltet als die, die nur Tage zuvor von den Griechen als unannehmbar abgelehnt worden waren.

Was steht in der Vereinbarung zwischen Tsipras und der Eurogruppe, von der Bundeskanzlerin Angela Merkel gestern in ihrer Pressekonferenz lapidar sagte, der griechische Anteil bestehe in der Höhe der Zahlen? Neben alten Forderungen wie den nach Rentenkürzungen, der Vereinheitlichung der Mehrwertsteuer sowie der Verbreiterung der Steuerbasis finden sich auch neue Forderungen in dem Dokument, wie etwa die Beschränkung der Macht der Gewerkschaften, der Neuregulierung der Arbeitsbeziehungen und der Arbeitsmarktpolitik, die Modernisierung des Tarifrechts, der industriellen Handlungsfreiheit sowie die massiv ausgeweitete Privatisierung staatlicher Betriebe und des griechischen Tafelsilbers zugunsten eines zwar in Athen angesiedelten, aber „unter Aufsicht der EU-Institutionen“ stehenden Fonds. Zudem wird festgelegt, dass die griechische Regierung mit den Institutionen bezüglich aller zu ratifizierenden Gesetze in den relevanten Themenbereichen zu verhandeln und übereinzustimmen hat, bevor sie diese zu einer öffentlichen Beratung freigibt oder sie ins Parlament einbringt. Anders formuliert: Ohne die Zustimmung der Institutionen wird künftig in Griechenland kein Gesetz mehr beschlossen, geschweige denn entworfen oder darüber diskutiert. Debatten im Parlament sind ohnehin ein Reizthema: Wenn die EU die Gesetze schon vor der Vorlage bis ins Kleinste durchkaut, ist vorstellbar, was hier unter „parlamentarischer Kontrolle“ zu verstehen ist.

Alle diese und viele weitere sehr kleinteilige Forderungen – u.a. zu Themen wie den Ladenöffnungszeiten, der Apotheken-Eigentümerschaft sowie haarkleinen Regulierungen zu Milch und Bakterien, eben all das, was auch wir von der regulierungswütigen EU kennen – sind auch nur „die minimalen Erfordernisse“, denen die griechischen Gesetzgeber innerhalb weniger Tage und Wochen nachkommen müssen, um überhaupt weitere Verhandlungen wieder aufnehmen zu können. Die Auflage eines neuen ESM-Programms wird auch nicht versprochen, sondern lediglich für „möglich“ erklärt. Diese Möglichkeit erscheint gering, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Papier von Griechenland das Erwirtschaften von Haushaltsüberschüssen erwartet, damit man künftig überhaupt über künftige Wirtschaftshilfen verhandeln könne.

Derartige Maßnahmenpakete erwartet man am Ende kriegerischer Auseinandersetzungen anzutreffen, in der Regel werden sie von den „Siegern“ der im Konflikt unterlegenen Partei vorgelegt. An das Ergebnis demokratischer Verhandlungsführung erinnert das Papier des EU-Gipfels eher weniger. Führt man sich vor Augen, dass dieser Maßnahmenkatalog einem Land vorgelegt wird, das seit Jahren unter einer schwere Rezession litt und gegenwärtig eine Bankenkrise erlebt, viele einschneidende Forderungen seiner Kreditgeber mit mäßigem Erfolg umgesetzt hat und dessen Bevölkerung unter einer Massenarbeitslosigkeit von 25% leidet, scheint es, als wolle man einem bereits am Boden liegenden „Partner“ nicht helfen, sondern seinen Willen brechen.

Bei Tsipras hat das offenbar funktioniert, so er denn diesen Willen jemals wirklich besaß. Anstatt die Unabhängigkeit Griechenlands gegenüber den Geldgebern der EU und des Internationalen Währungsfonds zu verteidigen, hat er das Land endgültig in die völlige politische Abhängigkeit von EU und IMF abrutschen lassen, was ihn aber nicht daran hindert, für eben diese Politik nun im griechischen Parlament um Unterstützung zu buhlen. Dass er keine Probleme damit hat, sich die erforderlichen Mehrheiten auch außerhalb seiner eigenen Regierung unter jenen zu suchen, die im Januar von den Wählern entmachtet wurden, kann da nicht mehr verwundern. Brendan O’Neill, Chefredakteur des britischen Online-Magazins „Spiked“, bringt auf den Punkt, was von einer solchen Politik zu halten ist: „Die Unehrlichkeit ist atemberaubend, der Zynismus überwältigend. Die Euro-Institutionen mögen dem griechischen Volk mit der Faust direkt ins Gesicht geschlagen haben, aber Syriza hat etwas noch Schlimmeres getan: Es hat ihm von hinten das Messer in den Rücken gerammt.“

Die Folgen dieser verlogenen Syriza-Strategie werden dramatisch sein: nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in politischer Hinsicht. Und auch der Glaube und das Vertrauen der Griechen in die Demokratie werden verheerenden Schaden nehmen. Denn das von Syriza zunächst anberaumte und dann doch im EU-Stil vollständig ignorierte Referendum behandelt die griechischen Wähler wie Kleinkinder, die man Demokratie spielen lässt, um sich selbst einen Freibrief auszuschreiben für die komplette Aufgabe der eigenen Souveränität. Schon jetzt dämmert es den Griechen, dass das „Agreekment“ keines ist, in dem ihren Interessen Rechnung getragen wurde. Vielmehr offenbart es, dass Tsipras & Co. Trotz (oder gerade wegen?) ihres gepflegten Images als coole, freche, intellektuelle, krawattenfreie und motorradfahrende Che-Guevara-2.0-Wiedergänger in Sachen Demokratieverständnis und Wählerentmündigung voll auf Brüsseler Linie fahren.

Einen Vorteil hat diese Zuspitzung jedoch: Sie trägt zur Klarheit bei, denn von nun an können die Griechen nicht mehr einfach nur mit dem Finger auf Brüssel zeigen und den dortigen Autoritarismus anfeinden. Der größte Feind einer unabhängigen und selbstbestimmten Zukunft Griechenlands sitzt im eigenen Land. Denn um dem Land in seinem Ringen um Freiheit und Würde tatsächlich einen positiven Dienst zu erweisen, fehlt es Syriza – ebenso im Übrigen wie den meisten der europäischen #thisisacoup-Empörten – an inhaltlicher Stärke und an Mut. Ein von Griechenland selbstbewusst eingeleiteter „Grexit“ zur Rettung und Wahrung des eigenen Anspruchs auf Souveränität und Würde hätte möglicherweise die Chance eröffnet, sich selbst, auf eigene Rechnung und in Eigenverantwortung langsam aus der Krise herauszuarbeiten. Stattdessen verhindert das verzweifelte wie verklärende Klammern am Euro um jeden Preis das Entstehen einer solchen politischen Perspektive.

Dass Tsipras bereit ist, für eine „Einigung“ mit Brüssel das griechische Wählervotum sausen zu lassen, offenbart den institutionellen Konservatismus, aus dem heraus der griechischen Politik nichts anderes einfällt, als unbedingt in der Eurozone verbleiben zu wollen – koste es, was es wolle. Mit dieser Haltung, aus der weniger eine politische Überzeugung als vielmehr die blanke Angst spricht, hat sich Syriza nun nahtlos in die Reihe der anderen europäischen Regierungen eingefügt. Tsipras lernt schnell: Für Regierungen, die sich vor dem Wählervotum oder vor dessen Umsetzung fürchten, ist die EU der ideale Rettungsschirm.

Für die Menschen in Griechenland bedeutet die „Einigung“ mit Brüssel eine Fortsetzung und Zuspitzung der Verelendungspolitik. Sie werden wohl zunächst „im Euro bleiben“, allerdings dürfte sich ihr Leben auch in den kommenden Jahren in einer Euro-freien Zone abspielen. Es ist durchaus vorstellbar, dass sich die Syriza-Regierung, sofern sie sich überhaupt halten kann und nicht freiwillig einer Notstandsregierung weicht, im Falle aufkommender Unruhen das eigene Volk auch mit Militärgewalt von der Alternativlosigkeit ihrer ängstlichen Euro-Politik zu überzeugen versuchen wird.

Die Europäische Union dürfte das wenig stören: Sie ist im Umgang mit autoritären Regierungen und auch mit Protektoraten wie auf dem Balkan bestens geübt. Entsprechende Notfallpläne dürften bereits in Brüsseler Schubladen liegen. Der Euro ist kein wirtschaftliches, sondern ein politisches Projekt, das die Vereinheitlichung Europas auf der Basis der Überwindung demokratisch legitimierter staatlicher Souveränität zum Ziel hat. Dazu muss der Euro vor den Europäern geschützt und diesen endlich die anachronistische Vorstellung ausgetrieben werden, sie könnten einfach so per Wahlen ihre Regierungen dazu bringen, selbst zu entscheiden. In dieser Hinsicht ist die Europäische Union tatsächlich einheitlich: Sie unterscheidet nicht zwischen Griechen, Iren, Litauern, Franzosen und Deutschen. Das sollte all jene bedenken, die heute noch auf die Griechen schimpfen und diese als Gefahr für die eigene Sicherheit betrachten.

Matthias Heitmann ist freier Autor und Redakteur bei der BFT Bürgerzeitung. Ende Juli erscheint im TvR Medienverlag sein Buch „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“. Seine Website findet sich auf www.zeitgeisterjagd.de.

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