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30.04.2015
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In vier Monaten von „Je suis Charlie“ zum “Charlie-Hebdo”-Boykott: Es ging nie um Meinungsfreiheit

In vier Monaten von „Je suis Charlie“ zum “Charlie-Hebdo”-Bo...
Wer Meinungsfreiheit verteidigen will, muss dies gerade auch in Bezug auf Meinungen tun, mit denen man sich nicht solidarisieren will. Leider haben dies die Schriftsteller, die nun die Preisverleihung an „Charlie Hebdo“ boykottieren wollen, nicht verstanden. Von Matthias Heitmann

Eigentlich soll am 5. Mai 2015 dem französischen Satiremagazin „Charlie Hebdo“ der diesjährige Preis für Mut und Meinungsfreiheit des amerikanischen PEN-Zentrums verliehen werden. Doch mehrere englischsprachige Schriftsteller, darunter Rachel Kushner und Francine Prose aus den USA, der Kanadier Michael Ondaatje, der Britin Taiye Selasi, der Nigerianer Teju Cole und der Australier Peter Carey, haben angekündigt, die Gala zu boykottieren, da sie die antireligiöse Stoßrichtung von „Charlie Hebdo“ ablehnen.

„Charlie Hebdo“, war da nicht was? Richtig, Millionen von Menschen solidarisierten sich in aller Welt mit dem am 7. Januar von islamistischen Terroristen angegriffenen Satiremagazin. „Je suis Charlie“ lautete der Slogan, der um die Welt ging. Dass nur wenige Wochen nach den Anschlägen von Paris nunmehr zahlreiche Schriftsteller die Verleihung des Meinungsfreiheitspreises an „Charlie Hebdo“ mit dem Verweis ablehnen, sie stimmten mit den Inhalten des Magazins nicht überein, offenbart, dass der Anschlag im Westen leider nicht zu einer klärenden Debatte über Freiheit und Toleranz geführt hat. Dies ist umso bitterer, als dass genau dies bereits an den weltweiten Protesten gegen Gewalt bereits sichtbar war. „Je suis Charlie“ war von Anbeginn an eben kein Slogan, mit dem die Freiheit Andersdenkender verteidigt wurde.

Am 9. Januar schrieb ich in meinem Artikel „'Je ne suis pas Charlie' – und gerade deshalb für die absolute Pressefreiheit!“, dass die Redefreiheit … auch für ihre Feinde [gilt], … auch für die Regenbogenpresse, die sogenannte „Lügenpresse“ und für Pornoblättchen. Man muss sich mit den Meinungen nicht identifizieren, deren Existenzrecht man verteidigt.“ Der Artikel ist fast vier Monate alt, dennoch ist er heute noch lesbar, weshalb er hier nachfolgend nochmals dokumentiert wird:

Ehrlich gesagt: Ich mag „Charlie Hebdo“ nicht. Ich hatte die Zeitschrift mal in den Händen, konnte aber mit dieser Art von Presslufthammersatire nie viel anfangen. Offenbar bin ich da aber eher eine Ausnahme. Seit dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 scheint es, als habe die halbe westliche Welt plötzlich ihr Herz für knüppelhart blasphemische und in alle Richtungen schießende Berufsprovokateure entdeckt. Menschen in ganz Europa behaupten plötzlich auf Demonstrationen oder auch im Internet: „Je suis Charlie.“

Ich bin mir sicher, dass ein Großteil jener, die jetzt von sich behaupten, „Charlie“ zu sein, bis zur Nachricht über den Angriff auf die Redaktion des Blattes keine Ahnung hatte, was sich hinter dem Namen verbirgt. Und selbst von jenen, die den Namen kannten, war offenkundig nur ein sehr kleiner Anteil Fans und zahlende Leser der Zeitschrift. Warum also diese spontane und so persönliche Identifikation? Weil man damit ein Zeichen setzen will für die Presse- und Meinungsfreiheit. Das ist gut gemeint. Das Paradoxe daran ist aber: Solche Solidaritätsbekundungen stärken die Meinungsfreiheit keineswegs.

Wer sich persönlich mit etwas identifiziert, wird immer die Ansicht vertreten, dass es sich dabei um ein berechtigtes Anliegen handelt. Wer für sich die Freiheit in Anspruch nimmt, die eigene Meinung zu äußern, ist daher noch lange kein Kämpfer für die Meinungsfreiheit. Ein solcher wird man erst dann, wenn man die Existenz und das Geäußert-Werden von Meinungen verteidigt, die man selbst nicht gutheißt. Es ist also gerade die Nicht-Identifikation mit einer Meinung und die dennoch konsequent durchgeführte Verteidigung ihres Existenzrechtes, durch die ein solcher Einsatz zum tatsächlichen Einsatz zum Wohle der Pressefreiheit wird.

Wenn Demonstranten nun von sich behaupten, selbst „Charlie“ zu sein, bringen sie damit zunächst erst einmal persönliche Betroffenheit zum Ausdruck. Das ist legitim. Aber Betroffenheit ist kein Nährboden, aus dem Freiheiten und insbesondere Presse- und Meinungsfreiheit erwachsen. Denn es ist ja gerade unsere eigene Betroffenheitskultur, unsere kollektive Verängstigung gegenüber allen möglichen und unmöglichen Bedrohungen und Gefahren, die das Ausblenden von unschönen Standpunkten und Fakten sowie das Kontrollieren und auch Zensieren von Öffentlichkeit und Wirklichkeit geradezu einfordert. Wenn Politiker wie heute Bundespräsident Joachim Gauck behaupten, „wir alle seien Charlie“, so ist das reine Heuchelei

Der Slogan „Ich bin Charlie“ hat daher in letzter Konsequenz etwas extrem Un-, um nicht zu sagen Antipolitisches. Er erinnert stark an den vor über zehn Jahren auf den Demonstrationen gegen den Anti-Terror-Krieg populär gewordenen Spruch „Nicht in meinem Namen!“ Auch damals wurde keine aktive politische Stellung bezogen oder gar eine Forderung erhoben, sondern persönliche Betroffenheit und der persönliche Rückzug aus dieser Thematik postuliert. Ich muss also „Charlie Hebdo“ nicht mögen, muss nicht behaupten, selbst „Charlie“ zu sein. Denn das Fantastische an der Meinungs- und Pressefreiheit ist ja gerade, dass diese Freiheit sich nicht wirklich für die einzelnen Inhalte oder Publikationen interessiert. Das gesellschaftliche und kulturelle Leben wird auch nicht zwingend messbar weniger attraktiv, wenn die eine oder andere Publikation verschwindet.

Und dennoch ist deren Existenzrecht ein ganz zentrales Recht für eine aufgeklärte Gesellschaft. Es ist zentral, nicht weil „Charlie Hebdo“ oder auch politische Nischenpostillen aus sich rechts oder links wähnenden intellektuellen Trockengebieten unbedingt gelesen werden müssen. Das Recht auf freie Meinung und auf Pressefreiheit ist deswegen wichtig, weil es immer und zuallererst das Recht des Individuums ist – nämlich das Recht auf die eigene Meinung, auf das Äußern der eigenen Meinung und auf die freie Entscheidung, sich andere Meinungen anzuhören. Es geht bei diesem Freiheitsrecht also nie um eine konkrete Sichtweise, die für sich genommen unbedingt zu verteidigen wäre, sondern einzig und allein um das vollständige und unbeschnittene Recht des Individuums, um mein und um Ihr Recht, eigenständig zu entscheiden, was wir sehen, hören oder lesen und was wir denken und sagen wollen.

Deshalb ist auch die in Debatten um Meinungsfreiheit immer wieder anzutreffende „Ja, aber“-Haltung ein so grundlegendes und gefährliches Missverständnis. Diese Haltung besagt, man könne alle Standpunkte akzeptieren, die sich in einem gewissen Rahmen bewegen und bestimmte Grenzen nicht überschreiten; bei allen anderen müsse man die Notbremse ziehen. Der Denkfehler liegt auch hier in der fälschlichen Konzentration auf den Inhalt von Meinungen und die daran zu bemessende Äußerungs- und Publikationsfreiheit. Wer das Recht von Menschen, bestimmte Standpunkte zu sehen, zu hören oder zu lesen, abhängig macht von der inhaltlichen Beschaffenheit dieser Standpunkte, bewertet nur vordergründig diese Inhalte: Eigentlich bewertet bzw. entwertet er die Menschen, und er zwingt ihnen einen Zensor auf, der entscheidet, wie viel und welches Gift verabreicht werden kann.

Die Beschneidung von Meinungs- und Pressefreiheit ist mitnichten eine Erfindung von Islamisten, sie ist zentraler Bestandteil westlicher Regulierungs- und Kontrollpolitik. Tatsächlich ist auch „Charlie Hebdo“ in Konflikt mit dem Zensor geraten. Schon vor einigen Jahren wurde die Publikation wegen Blasphemie und Hetze verklagt – wohlgemerkt nicht in einem Sharia-Staat, sondern in Frankreich, auf Basis französischer Gesetze. Auch in Deutschland kommt es immer wieder zu ähnlichen Prozessen – die Anklage gegen den Kabarettisten Dieter Nuhr war nur eins von vielen Beispielen. Viel schlimmer aber noch: Es hat sich eine vorauseilend gehorsame Kultur der ängstlichen Zurückhaltung und Selbstzensur entwickelt, die dazu führt, dass wirklich kernige Standpunkte und auch mal deutlich ausgesprochene Wahrheiten immer seltener den Weg in die Öffentlichkeit finden.

Gegen diese Kultur der Angst, die immer wieder in offene Unterdrückung von Freiheitsrechten umschlägt, hilft nur ein mutiges Eintreten für das Recht auf vollständige und unbeschnittene Meinungs- und Pressefreiheit. Und dieses Recht ist insbesondere auch dann zu verteidigen, wenn es sich um Inhalte handelt, die man selbst ablehnt. Denn erst in der offenen Debatte können sich Argumente und somit die gesellschaftliche Wahrnehmung entwickeln. Presse- und Meinungsfreiheit ist kein romantisches Hirngespinst oder aber ein Luxus, den man meint, sich dann leisten zu können, wenn gerade einmal keine Gefahr in Verzug ist. Sie ist notwendig für eine robuste und tolerante Gesellschaft, die nicht heulend vor Terroristen und Freiheitsfeinden in die Knie geht, sondern aufrecht stehen bleibt. Non, je ne suis pas Charlie. Aber das muss ich auch nicht sein, um mich für Meinungs- und Pressefreiheit einzusetzen, das genau ist die Idee dieser Freiheit.

Matthias Heitmann ist freier Publizist und Redakteur der BFT Bürgerzeitung. In Kürze erscheint im TvR Medienverlag sein Buch „Zeitgeisterjagd“. Seine eigene Website findet sich unter http://www.zeitgeisterjagd.de.


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