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26.09.2016
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Migration und Identität - Was ist deutsch – und wenn ja, wie viele?

Migration und Identität - Was ist deutsch – und wenn ja, wie...
Hierzulande wird immer wieder versucht, ein übernationales Selbstverständnis zu basteln. Doch die Mehrheit der Deutschen sieht die deutsche Kultur als „Leitkultur“ an. Das ist kein Grund zur Sorge, sondern ganz normal, meint Alexander Grau

Mit sich selbst beschäftigen sich die Deutschen am liebsten. Vorzugsweise kritisch. Das ist keine neue Eigenart. Schon der von ihnen zum Dichterfürsten erkorene Goethe haderte mit seinen Landsleuten. Schopenhauer bekannte, dass er „die deutsche Nation wegen ihrer Dummheit verachte“. Und Nietzsche ätzte: „So weit Deutschland reicht, verdirbt es die Kultur.“

Nein, deutsche Selbstzweifel sind kein Produkt von Nachkriegszeit und Vergangenheitsbewältigung. Allerdings haben Weltkrieg und Massenmord das ohnehin verwickelte Verhältnis der Deutschen zu sich selbst endgültig pathologisiert. Kein Volk der Welt ist so leidenschaftlich damit beschäftigt, nicht es selbst zu sein – und dabei ganz bei sich.

Wiederbelebung einer Lieblingsfrage

Doch erst die Migrationskrise hat die angestaubte und feuilletonistische Frage nach dem „Wesen“ der Deutschen politische Relevanz und Aktualität verliehen. Wer ist Deutscher? Was macht einen Deutschen zu einem Deutschen? Und wenn man kein Deutscher ist: Wie wird man einer?

Grob unterteilt stehen drei Lager gegen- und nebeneinander. Da sind die einen, die das Deutschsein lediglich an hoheitliche Formalien binden: den Besitz eines Ausweispapiers etwa oder die Geburt auf deutschem Staatsgebiet. Dann gibt es jene, die am klassischen Abstammungsprinzip festhalten wollen. Demnach ist Deutscher nur, wer deutsche Eltern hat. Und schließlich gibt es noch solche, die das Deutschsein darüber hinaus an kulturelle Kriterien binden. Kompliziert wird die Situation dadurch, dass im Alltag häufig verschiedene Kriterien vermischt und unterschiedlich gewichtet werden.

Nationales Selbstverständnis ist gewachsen

Nationen sind kulturelle Konstrukte, keine natürlichen Dinge. Das bedeutet: Sie könnten anders oder auch gar nicht sein. Und auch die jeweiligen Definitionen des Begriffs „Nation“, die nationalen Selbstverständnisse sind historisch gewachsen. Es gibt keine falschen oder richtigen Kriterien, um zu bestimmen, was eine Nation ist. Vielmehr gibt es unterschiedliche Traditionen des nationalen Selbstverständnisses. Daher ist naheliegend, die Menschen selbst zu fragen. Das Institut für Demoskopie in Allensbach hat genau das getan und in den letzten Wochen untersucht, was nach Ansicht der Deutschen deutsch ist und wie sich Deutschsein definiert.

Laut Allensbach geht die überwiegende Mehrheit der Deutschen davon aus, dass es so etwas wie einen Nationalcharakter gibt (57 Prozent). Für knapp die Hälfte ist Deutschsein nicht nur eine Frage des Personalausweises, sondern hat etwas mit Herkunft und Tradition zu tun. 53 Prozent befürchten, dass verloren geht, was Deutschland einmal war, wenn immer mehr Einwanderer ins Land kommen. Und drei Viertel sprechen sich dafür aus, dass hierzulande die deutsche Kultur „Leitkultur“ sein sollte.

Weil nationale Selbstbilder historisch gewachsen sind, sind sie häufig widersprüchlich und unsystematisch, zirkulär sind sie sowieso. Das macht sie aber nicht unsinnig. Menschen definieren sich nun einmal überwiegend über ihre Herkunft, über ihre Abstammung und verschiedene Formen der Überlieferung.

Geschichte lässt sich nicht leugnen

Man kann das natürlich kritisieren. Die Alternative wäre jedoch ein äußerst abstraktes und unhistorisches Verständnis menschlicher Existenz. Wir leben in keinem leeren Raum. Wir alle sind in eine Kulturtradition gestellt, ob wir das wollen oder nicht. Wir können diese Tradition für uns persönlich ablehnen und versuchen, ganz eigene, neue Wege zu gehen. Das ändert jedoch nichts daran, dass wir uns in irgendeiner Form zu unserer eigenen Geschichtlichkeit verhalten müssen. Und es ist diese Geschichtlichkeit, die uns, ob wir wollen oder nicht, an ein Kultur- und Erfahrungskollektiv bindet.

Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts macht es verständlich, dass in Deutschland immer wieder versucht wird, sich ein ahistorisches, übernationales Selbstverständnis zu basteln, das auf zeitlosen universalen Werten gründen soll. Doch Geschichte lässt sich nicht leugnen. Sie kehrt stets durch die Hintertür zurück. Und so ist diese sehr deutsche Sehnsucht nach einer postnationalen Existenz Ausdruck dessen, was sie eigentlich überwinden will: nationaler Erfahrungsgemeinschaft und Bindungskraft.

Nationale Selbstbilder unterliegen historischen Wandlungen. Das macht sie nicht wertlos, sondern lediglich dynamisch. Sie verhindern, dass Nationen zum Monument ihrer selbst erstarren und damit ihre Zukunftsfähigkeit verlieren. Die naive Vorstellung hingegen, Gesellschaften könnten ihr Selbstbild allein auf (angeblich) universale Werte, auf Vielfalt und Toleranz gründen, ist nicht nur ahistorisch und wirklichkeitsfremd. Sie verbarrikadiert eine Gesellschaft geradezu in einen geschichtslosen Raum, der sie unbeweglich und dogmatisch macht.

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Im Dezember 2014 erschien der von ihm herausgegebene Band „Religion. Facetten eines umstrittenen Begriffs“ bei der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig. Dieser Text ertschien zuerst am 24. September 2016 in der Cicero Online-Kolumne "Grauzone".

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