Mittwoch, 24. April 2024

22.09.2016
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Berlin-Wahl: Rote Rosen für geschlagenen Sieger

Berlin-Wahl: Rote Rosen für geschlagenen Sieger
Es war eine bizarre Szene. Nach diesen Wahlergebnissen hätte die ergebnisschwächste Berliner SPD aller Zeiten eigentlich ihr Desaster betrauern müssen. Sie hätte auch den bisherigen und ebenso abgestraften Koaltionspartner CDU zu gemeinsamen Beisetzungsfeierlichkeiten für das Modell Volkspartei laden können. Anlass für einen Leichenschmaus zum Ableben des nachkriegsdeutschen Parteienstaatsmodells mit zwei großen und ein paar kleinen Parteien hätte das Berliner Wahlergebnis hinreichend geboten.

Doch wenn SPD-Chef Sigmar Gabriel stattdessen mit roten Rosen auf der Bühne erscheint, um mit dem gerade vom Wähler abgewatschten Regierenden Bürgermeister Michael Müller einen Sieg zu feiern, dann fragt man sich als Zuschauer schon, ob die jetzt völlig verrückt geworden sind oder man selbst die Dinge nicht mehr ganz richtig sieht. Naturgemäß fällt es leichter, am Geisteszustand der anderen zu zweifeln. Vor allem, wenn sie einem gleich viele weitere Gelegenheiten dazu bieten.

Michael Müller jubelt dem Publikum etwas von einem klaren Regierungsauftrag entgegen. Wer das mit gerade mal etwas mehr als einem Fünftel der Wähler im Rücken tut, muss die Bedeutung des Begriffs „klarer Wählerauftrag“ neu definiert haben. Aber Begriffe umdefinieren, das ist ja eine der wenigen Disziplinen, in denen die Parteien noch kreativ sind.

Auch in dem Umstand, dass die SPD aufgrund der eigenen desaströsen Schwäche mindestens noch zwei andere Parteien braucht, um überhaupt eine parlamentarische Mehrheit zustande zu bekommen, sieht Genosse Müller nur viele schöne Optionen, eine Regierung zu bilden. Natürlich läuft es ohnehin auf Rot-rot-grün hinaus, aber das regt ja keinen mehr auf. Die meisten Berliner haben sich an das Elend eines langsam zusammenbrechenden Gemeinwesens schon etliche Jahre gewöhnen können. Viel gibt es an der hauptstädtischen Infrastruktur ohnehin nicht mehr kaputtzumachen und die offenen Rechnungen gehen darüberhinaus letztlich an die Zahlerländer im Finanzausgleich. Im Wesentlichen bleibt also alles beim alten, höchstens noch ein bisschen schlechter. Vielleicht wird die neue Landesregierung noch ein paar schöne Verordnungen und Verbote aus ihren diversen Schatzkästchen ideologischer Träume zaubern, zu mehr wird sie nicht in der Lage sein. Insofern können sich unsere neuen alten Verantwortungsträger auch gleich ungeniert um die Verteilung der Ressorts kümmern.

Wie gesagt, als Berliner hat man sich an vieles schon gewöhnt, so wie es die Bewohner anderer failed states ja auch tun. Nur dann auch noch mit dieser Siegerpose zu kommen, das ist einfach eine herausragend abstoßende Form der Unanständigkeit.

Genosse Müller feierte sich am Wahlabend auf der Bühne und in Interviews als der beliebteste Politiker der Stadt, anstelle darüber bestürzt zu sein, dass es hier seit dem Rücktritt seines Genossen Buschkowsky vom Amte des Neuköllner Bezirksbürgermeisters keinen Lokalpolitiker mehr gibt, auf den die Zuschreibung „beliebt“ zuträfe. Soll wirklich ein Mann diese Stadt regieren, der sich freut, wenn er aus der Riege der Unbeliebten wenigstens der am wenigsten Unbeliebte ist?

Aber sein großer Parteivorsitzender Sigmar Gabriel setzte gleich nach. Nachdem er seinen Strauß mit roten Rosen losgeworden war, freute er sich riesig, dass doch fast 90 Prozent der Wähler nicht die AfD gewählt hätten. Unabhängig davon, dass der Bundeswirtschaftsminister da ein wenig großzügig aufgerundet hat, scheint ihn der Gedanke, dass im einst roten Berlin fast 80 Prozent der Wähler nicht die SPD gewählt haben, nicht weiter zu beunruhigen. Oder kam der ihm gar nicht erst?

Gerade stirbt eine jahrzehntelang gewohnte Parteienlandschaft. Gerade stirbt das deutsche Nachkriegsmodell der Volkspartei. Es ist ein langsamer Tod, dennoch kann man ihn schlecht übersehen. Wäre hier nicht ein Moment des Innehaltens, des Nachdenkens angebracht? Darf man hier nicht mal die Frage diskutieren, was die politischen Eliten mit diesem Gemeinwesen angestellt haben, auf dass es jetzt so einen schleichenden Systemwechsel erfährt? Offenbar nicht, denn das politische Personal spielt unbeirrt die alten Rollen weiter, nur ergänzt um die Figur des Allparteienkaninchens, das gebannt auf die AfD-Schlange starrt.

Und die AfD ist ja nun, wie es Genosse Gabriel mit seinem roten Rosenstrauß besiegeln wollte, quasi besiegt, da kann doch alles weitergehen, wie bisher. Dass die Wähler in Ost und West, in Flächenland und Stadtstaat seit Monaten gerade ziemlich ähnliche Signale senden, wenn sie denn wählen dürfen, wird immer noch so weitgehend ignoriert, wie es in einer funktionierenden Demokratie eigentlich unvorstellbar sein sollte.

Peter Grimm betreibt den Blog www.sichtplatz.de, auf dem dieser Artikel am 19.9.16 erschienen ist.

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