Mittwoch, 24. April 2024

05.09.2016
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"Die Bürger müssen sich ihre Demokratie zurückerobern"

"Die Bürger müssen sich ihre Demokratie zurückerobern"
Ein Kommentar von Jörg Baberowski

Vor einem Jahr entschied Angela Merkel, Deutschlands Grenzen zu öffnen. Zwei Millionen Einwanderer strömten ins Land und bescherten der Republik die grösste Staatskrise seit ihrer Gründung. Noch vor zwei Jahrzehnten wäre eine Regierung, die sich auf solche Weise über Recht und Gesetz hinweggesetzt hätte, unhaltbar gewesen. Nun aber geschah gar nichts. Die Kanzlerin erklärte, dass geschafft werden müsse, was befohlen worden sei. Deutsche hätte immerhin stets Grosses geleistet.

Auf dem CDU-Parteitag gab es für diese Sätze aus dem Tollhaus tosenden ­Beifall. Eine ganze Partei hatte ihren Verstand ausgeschaltet, und es schien, als sei die SED ­wieder auferstanden. Wer öffentlich Zweifel ­vorbrachte, die Vernunft ins Spiel bringen wollte, wurde von Politikern und ihren Helfern in Presse und Rundfunk darauf hingewiesen, dass Gehorsam erste Bürgerpflicht sei. Die staatliche Ordnung löste sich vor allen Augen auf, und nichts geschah.

Gelenkt und Bevormundet?

Schon seit Jahren leben wir in einer gelenkten Demokratie. Die Bürger dürfen wählen, sollen es aber Berufspolitikern überlassen, Entscheidungen für sie zu treffen. Doch nicht einmal sie sind noch frei, den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Abgeordnete sind Befehlsempfänger, die nicht ihrem Gewissen, sondern ihrer Partei gehorchen. Wer widerspricht, wird zur nächsten Wahl nicht mehr aufgestellt. Das Parlament hat seine Macht verloren, es wird in vielen Ländern inzwischen von der Regierung kontrolliert. Alle wichtigen Entscheidungsbefugnisse sind an die EU-Kommissare übertragen worden, die sich nach Belieben über den Bürgerwillen hinwegsetzen können, obwohl sie weder durch Wahlen noch durch Sachverstand legitimiert sind. Und so kommt es, dass sich für politische Parteien nur noch interessiert, wer anderenorts nicht weiterkommt.

Die meisten Politiker interessieren sich nicht für ihr Land, nicht einmal mehr für die Partei, sondern nur noch für sich selbst. Es ist inzwischen einerlei, welcher ­Partei sie angehören, weil sie ebenso gut jeder anderen angehören könnten. Sie leben von der Politik, sind durch das Band ihrer Interessen nur noch mit ihresgleichen, aber nicht mehr mit den Bürgern verbunden, die sie vertreten sollen. Von den Leitmedien haben sie nichts zu befürchten, weil auch dort die Gesänge der Macht angestimmt werden.

Nur Ohnmacht für die Bürger

Manche Politiker hören nur noch, was sie einander als Wahrheit bestätigen, manche ­erleiden einen bizarren Realitätsverlust. Es ­regnet, aber sie selbst sehen die Sonne. In fast allen ­Ländern schlägt ihnen deshalb Verachtung ­entgegen, weil man ihnen nichts mehr zutraut und nichts mehr glaubt. Aber diese Verachtung läuft ins Leere, solange die politische Elite am Glauben festhält, sie selbst sei aufgeklärt, tolerant und weltoffen, die Bürger aber konservativ, dumm und fremdenfeindlich.

Vor einigen Jahrzehnten konnte man es sich noch leisten, apolitisch und apathisch zu sein. Heute aber steht die demokratische Ordnung auf dem Spiel. Die Bürger sind politisiert wie niemals zuvor, sie verlangen nach Mitsprache und Mitbestimmung, ernten aber nichts als Ohnmacht. Das politische Interesse wächst mit dem Misstrauen, das Politiker erzeugen. Aus diesem Dilemma gibt es nur dann einen Ausweg, wenn die Diktatur der ­Parteien durch eine Demokratie der Bürgergesellschaft ersetzt wird, wenn die demokratische ­Willensbildung sich nicht mehr nur in Wahlen erschöpft und wenn die Macht der EU-Bürokratie gebrochen wird. Die Bürger müssen sich ihre Demokratie zurückerobern. Sonst werden sie am Ende in einer ­Ordnung leben, die sie zwar gewählt, aber nicht gewollt haben.


Jörg Baberowski ist Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im letzten Jahr ist im S.Fischer Verlag sein Buch Räume der Gewalt erschienen. Der vorliegende Text wurde zuerst am Freitag, den 2. September 2016 unter dem Titel "Wider die gelenkte Demokratie" in der Basler Zeitung veröffentlicht. Wir dokumentieren ihn hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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