15.06.2015
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Montagmorgen-Diarrhöe: Deutsche Medien leiden unter akuter Tatorteritis

Montagmorgen-Diarrhöe: Deutsche Medien leiden unter akuter T...
Müssen wir montags früh wirklich über den „Tatort“ reden? Viel spannender wäre es doch, einmal darüber zu diskutieren, warum heute so viele Menschen meinen, der öffentlich-rechtliche Sonntagabendkrimi sei relevanter Nachrichtenstoff. Von Matthias Heitmann

Ja, ich bin restblond, ich habe einen deutschen Pass, und ich schaue ganz gerne mal einen „Tatort“ – vor allem dann, wenn am Abend weder in meinem „real life“ noch auf der Mattscheibe etwas Besseres läuft. Fast noch besser als eine sinnvolle Alternative zum abendlichen „Tatort“ wäre es jedoch, an einem Montagmorgen mitten in einer blühenden deutschen Medienlandschaft aufzuwachen und nicht auf Schritt und Tritt über „Tatort-Kolumnen“ zu stolpern.

Keine Sorge, es handelt sich bei diesem Text nicht um eine verkappte „Tatort-Kolumne“, die versucht, Interesse dadurch zu wecken, dass sie sich ach so kritisch mit der gestrigen Ausstrahlung der ARD oder mit Till Schweiger oder Lena Odenthal auseinandersetzt. Ich werde nicht aus journalistisch-kritischer Distanz den „Tatort“ vom letzten Sonntag rezensieren – obwohl ich ihn gesehen habe –, und ich werde auch keine „Tatort-Statistiken“ aus dem Ärmel schütteln, keine Informationen darüber, wie sich die Anzahl der Filme und der in diesen umgebrachten Opfer über die Jahre entwickelt hat, was Münster von Ludwigshafen unterscheidet, wie realistisch die verfilmten Geschichten waren und was uns all das über unsere Gesellschaft sagen soll. Grob betrachtet war der gestrige „Tatort“ weltgeschichtlich irrelevant, wie alle vor ihm, und auch dem nächsten wird es ähnlich ergehen.

Tatort-Geschichten mögen aktuelle Ereignisse und Trends auf eine bestimmte Art und Weise aufgreifen und reflektieren, aber dennoch bleiben sie vor allem eins: Kriminalgeschichten. Als ich als Junge Bücher der „Drei Fragezeichen“ las und vor Aufregung kaum schlafen konnte, sagte meine Mutter immer zu mir: „Das ist doch nur eine Geschichte.“ Hat sich den „Tatort“, die Erwachsenenversion der „Drei Fragezeichen“, auch nur jemand ausgedacht, oder gelten hier andere Regeln? Warum meinen zahlreiche und durchaus intelligente Journalisten, den „Tatort“ vom Sonntag am Morgen danach bereits kommentiert und diesen Kommentar veröffentlicht haben zu müssen, ganz so, als sei die Blutspur von 20.20 Uhr noch frisch und hielte uns davon ab, morgens halbwegs konzentriert und beruhigt unserer Tätigkeit nachzugehen? Und warum steht eine Besprechung eines Fernsehspielfilms bei Spiegel Online im Wirtschaftsteil?

Nahezu keine deutsche Tageszeitung meint heute, dass ihre Website ohne eine eigene „Tatort-Kolumne“ auskommen könne – und zwar nicht nur eine feuilletonistische, sondern eine harte und investigative. Bei Spiegel Online heißt das dann „Fakten-Check“. Die Süddeutsche Zeitung unterhält eine ganze Unterseite mit dem irgendwie ungekonnten Titel „Wenn es mal wieder eine Leiche gibt“. Auch beim Neuen Deutschland leistet man sich einen permanenten Blog und wagt hin und wieder mal eine vage Sozialanalyse des Sonntagabendgeschehens im Ersten. Sogar bei der taz muss der medial ewigkritische Leser nicht unterbelichtet bleiben, was die nationalgefühlprägende ARD-Produktion anbelangt. Bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geht es hingegen – wenig überraschend – ernsthaft staatstragend und kriminalistisch und dadurch ungewollt komisch zu: Die Online-Kolumne heißt dort „Tatortsicherung“. Zur Sonntagabendaustrahlung werden im Vorfeld Experten befragt, ihre Antworten werden pünktlich zum Ende der Sendung online veröffentlicht. Stolz wird darauf verwiesen, dass „zum Miträtseln … Fragen und Kommentare parallel zur Fernsehausstrahlung auf dem Account @FAZ_Feuilleton und unter #Tatort“ aus der Redaktion heraus getwittert werden.

Vielleicht bin ich ja auch einfach nur zu desinteressiert, aber ich finde schon die Einblendung von Ballbesitzverteilungen und Zweikampfstatistiken während laufender Live-Übertragungen von Fußballspielen eher hinderlich und bestenfalls irrelevant. Auf die Idee aber, während eines laufenden „Tatort“ die (Praktikanten in der) FAZ-Redaktion über Twitter mit Fragen zu löchern, wäre ich nie gekommen. Vielleicht weiß man dort aber auch (aufgrund eines zuvor für die Fernsehzuschauer unsichtbar installierten Schrittzählers), ob der schlanke Börne sich tatsächlich weniger bewegt als der dicke Thiel.

Den Vogel schießt freilich Focus Online ab: In seiner unnachahmlichen Art wird hier unmittelbar nach dem Abspann den Tatort-Liveticker zum Nachlesen präsentiert. Wer also kurzzeitig das Schland-TV-Lagerfeuer – warum auch immer – verlassen musste, kann die ansonsten am nächsten Morgen im Büro peinliche Sprechpausen bereitende Wissenslücke rechtzeitig nahtlos auffüllen: „20.36 Uhr: Aaaaah! Müller kommt ins Präsidium zu Eisner und Fellner. „Mein richtiger Name ist Mirko Gradic. Ich habe im Balkankrieg gekämpft und alles aufgeschrieben. Bitte, beschützen Sie meine Familie“, fleht er die Beamten an. (…) 20.43 Uhr: Disput im Flur. Internationale Ermittler auf der Fahndung nach Kriegsverbrechern sind da. Eisner und Fellner teilen ihnen schließlich alles mit, was sie bisher wissen – viel ist das nicht.“

Nicht falsch verstehen, am Genre der Filmkritik ist absolut gar nichts auszusetzen. Sich mit Kultur im gesellschaftlichen Kontext zu beschäftigen, ist höchst interessant und aufschlussreich und empfehlenswert, und man kann in der Tat viel über die Gesellschaft lernen. Und Menschen, die das ernsthaft betreiben und sich für Kulturkritik interessieren, wissen in der Regel auch, dass Kultur ein Spiegelbild der Gesellschaft ist und sie also, wenn sie die Wirklichkeit selbst betrachten wollen, ihren Blick von der Mattschei, äh, vom Spiegelbild lösen müssen. Die Realität passt nicht in einen Flachbildschirm; dessen Aufgabe besteht lediglich, einen Ausschnitt aus ihr zu liefern.

Wenn also ein wahllos herausgegriffener „Tatort“, nehmen wir einfach mal den gestrigen mit dem sich mir weiterhin nicht erschließenden Titel „Wer Wind erntet, sät Sturm“, die schmutzigen Geschäfte im Umfeld von Windkraft und Umweltschutz aufgreift, so ist das ein intelligenter Schachzug, um eine Kriminalgeschichte zeitgemäß zu verpacken. Warum eine Inszenierung dieser Art jedoch einem „Fakten-Check“ unterzogen werden sollte und was mir das dann über ihre Qualität oder gar ihren Unterhaltungswert sagen soll, bleibt rätselhaft. Dabei ist der „Fakten-Check“, wie er als Stilmittel in der Talksendung “Hart aber fair“ verwendet wird und Diskutanten daran hindern soll, ungestraft vor laufenden Kameras Lügen zu verbreiten, ja durchaus charmant und auch sinnvoll. Aber braucht man das für fiktive Kriminalgeschichten? Gab es das früher auch bei „Ein Colt für alle Fälle“, „Soko 5113“ oder „Miami Vice“? Natürlich nicht, die Frage ist ungerecht, denn es gab ja früher ohnehin gar nichts von dem, was man heute braucht. Die Frage ist aber: Hätten wir’s früher gebraucht, und braucht man’s heute?

Warum also rutscht die Inszenierung des „Tatort“ und seine fast schon ebenso öffentlich-rechtliche Rezeption in den Bereich realer Nachrichten? Weil die Wirklichkeit ja auch nur eine Inszenierung ist? Für manchen zeitkritischen Geist mag diese Erklärung ausreichen, um sich am „Tatort“ intellektuell auf- und auszurichten. Und dass das nun wirklich allerletzte öffentlich-rechtliche TV-Lagerfeuer der Nation, nachdem für „Wetten dass…?“ kein(e) Lanz(e) mehr gebrochen wird, gepimpt werden muss, leuchtet auch ein. Aber es ist schon auch irgendwie beängstigend, dass selbst wirklich kluge Geister scheinbar Sonntagsabends nach der nicht minder standesgemäßen „Tagesschau“, dem Gottesdienst der gottlosen, aber global-bewussten deutschen Öffentlichkeit, den „Tatort“ – gewissermaßen als eine Art filmischer „Brennpunkt“ zur Lage der Nation – mit genau der journalistischen Ernsthaftigkeit verfolgen, analysieren und rezensieren, mit der sie anschließend „Günther Jauch“ wegen des zu hohen Aufkommens leerer Phrasen aus der noch leereren echten Welt wegzappen.

Immer wenn die Spiegelbilder der Wirklichkeit – noch dazu solche, die in der Rubrik Entertainment zu Hause sind – mehr Aufmerksamkeit erzeugen als die Realität selbst, dann läuft irgendetwas schief. Dass gut gebildete Menschen „ihren Tatort“ als Primärquelle für Unternehmenspraktiken im Umweltschutz heranziehen, dann ist das weniger ein Qualitätssiegel für die filmische Krimiinszenierung, sondern ein Beleg dafür, wie sehr in unserer heutigen Gedankenwelt Fiktion das reale Leben ersetzt. Die Grenze verschwimmt, und mit ihr auch der offensichtliche Unterschied zwischen Entertainment und Information. Im selben Maße schwindet auch die logische Begründung dafür, warum es schlicht und ergreifend absurd ist, den „Tatort“ zum Thema eines Live-Tickers zum Nachlesen zu machen. Wenn eine verfilmte Kriminalgeschichte uns mehr über die Welt verrät als eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihr, warum dann nicht ganz in dieses Genre überwechseln?

Das Finstere daran ist, dass seriöse Journalisten und Publizisten, die ihre Liebe zum Sonntagabendkrimi durch dessen Überhöhung sozialwissenschaftlich und journalistisch tarnen, unfreiwillig ein Stückchen dazu beizutragen, dass die Wirklichkeit sich in unserer Wahrnehmung immer mehr so verhält wie ein „Kriminalfall“ – und es immer üblicher wird, dass Zeitungsredakteure so agieren wie Drehbuchautoren, die, um eine gute Moral von der Geschicht‘ zu verkaufen, dazu bereit sind, sich eine spannende Geschichte zurechtzuschneidern.

Matthias Heitmann ist freier Publizist. In Kürze erscheint im TvR Medienverlag sein Buch „Zeitgeisterjagd. Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“. Seine eigene Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de

Foto: ARD