17.10.2016
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Erinnerungskultur: Geschichte kann man nicht ausradieren

Erinnerungskultur: Geschichte kann man nicht ausradieren
Kolumne Grauzone: In Freiburg berät eine Kommission darüber, welche Straßennamen akzeptabel sind oder nicht. Heraus kommen bizarre Verrenkungen, beobachtet Alexander Grau.

Vergangenheit vergeht nicht. Das macht sie mitunter zu einer Zumutung. Insbesondere die deutsche Vergangenheit will sich partout nicht auflösen im Nebel der Geschichte. Also wurden in den letzten Jahrzehnten hierzulande Psychotechniken entwickelt, an denen Sigmund Freud seine Freude gehabt hätte: die „Vergangenheitsbewältigung“ und die „Erinnerungskultur“.

Doch Vergangenheit lässt sich nicht bewältigen. Allenfalls lässt sie sich zurechtstutzen, etwa zum pädagogischen Gebrauch. Denn um aus der Geschichte zu lernen, muss man sie moralisch beurteilen. Moralische Urteile aber sind nicht zeitlos, sondern Produkte ihrer jeweiligen Gegenwart. Ergebnis: Geschichtsbetrachtung in pädagogischer Absicht verkommt zu Enthistorisierung – also zum genauen Gegenteil dessen, was eigentlich beabsichtigt war. Hier liegt die Krux.

Ähnlich verhält es sich mit der „Erinnerungskultur“. Denn eine Erinnerung, die zur Kultur wird oder zum Kult, ist das Gegenteil von abwägender historischer Versicherung. Es ist die Instrumentalisierung der Vergangenheit für die jeweilige Gegenwart. Aus diesem Grund kennt die offizielle Erinnerungskultur nicht nur Gedenktage und Mahnmale, sondern auch das gezielte Vergessen.

Straßennamen in Freiburg auf dem Prüfstand

Diese „damnatio memoriae“, die Verdammung des Andenkens, ist daher eine altbewährte Sozialtechnik. Die Ägypter kannten sie, die Römer haben sie institutionalisiert. Dabei ging es ihnen weniger darum, die Erinnerung an einen in Ungnade Gefallen wirklich auszulöschen, sondern im Gegenteil: durch die Tilgung seines Namens und die Entfernung seiner Bildnisse sollte die Erinnerung an ihn verflucht werden – eben „damniert“.

Ein besonders spannendes Schauspiel bundesrepublikanischer Damnierung findet derzeit in Freiburg statt. 2012 setzt dort der Gemeinderat eine Kommission zur Überprüfung der etwa 1.300 Freiburger Straßennamen ein. Ihre Aufgabe: Zu sondieren, welche Straßennamen aus heutiger Sicht nicht mehr akzeptabel sind.

Letzte Woche nun stellte die Kommission ihren Abschlussbericht vor. Ergebnis: 12 Namen sollen umbenannt (Kategorie A), 15 weitere mit Zusatztafeln versehen werden (Kategorie B).

Keine Frage: Personen, die sich direkt an einer Gewaltherrschaft beteiligt und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben, gehören nicht in der Öffentlichkeit gewürdigt. Das gilt nicht nur für die prominenten Täter, sondern auch diejenigen aus der zweiten oder dritten Reihe.

Wie weiter mit Heidegger?

Doch die Mehrzahl der inkriminierten Namensträger sind eher ambivalente Gestalten. Eine der Prominentesten: Martin Heidegger. Der war ohne Zweifel ein Vordenker jenes antiwestlichen und antizivilisatorischen Denkens, das auch die Nazis bedienten. Dennoch hat seine Fundamentalkritik unserer Geistesgeschichte ihre Berechtigung, auch wenn man ihr nicht zustimmt. Genau hierin liegt ja seine Herausforderung.

Oder nehmen wir den heute weniger bekannten Pathologen Ludwig Aschoff. Unbestritten eine Koryphäe seines Fachs, mit bis heute grundlegenden Arbeiten zu Herzmuskelerkrankungen (Aschoff-Knoten), zur Arteriosklerose und anderen verbreiteten Krankheiten (Magengeschwür, Tuberkulose). Zugleich aber war Aschoff ein prominenter Eugeniker und stand im Alter (geboren 1866) den Nazis nahe. Was nun?

Geschichte ist selten eindeutig, und Menschen sind es schon mal gar nicht. Zu welch bizarren intellektuellen Verrenkungen das führen kann, zeigen die Vorschläge der Freiburger Kommission zu den Zusatztafeln (Kategorie B).

Etwa die Fichtestraße. Die soll mit dem Schildchen ergänzt werden: „Nationalistischer Philosoph und erklärter Gegner Frankreichs“. Dabei gibt es zu Fichte weitaus mehr (und wichtigeres) zu sagen, als das er Nationalist war. Und seine Feindschaft gegenüber der französischen Besatzungsmacht 1807 entspricht zwar nicht dem Geist aktueller Völkerverständigung, vor dem Hintergrund seiner Zeit ist sie aber nicht vollkommen dahergeholt.

Mehr Demut üben

Eine besondere Pointe liefern die Kommissionsempfehlungen jedoch bei der Bewertung des großen schwedischen Naturforschers Carl von Linne, der Mitte des 18. Jahrhunderts noch nicht auf der Höhe heutiger Genderforschung war und daher als „Vordenker einer biologistisch begründeten Geschlechterhierarchie und Rassenlehre“ gilt. Ist das ernst gemeint?

Geschichte kann man nicht ausradieren. Eine Gesellschaft, die ihre Vergangenheit im Stadtbild tilgt, musealisiert sie. Das schürt die zwar gemütliche, jedoch gefährliche Illusion der eigenen moralischen Überlegenheit. Denn das Bewusstsein für historische Relativität bildet sich nur in direkter Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

Vor allem aber wären wir gut beraten, demütiger zu sein. Denn nichts spricht dafür, dass wir moralisch besser sind als unsere Vorfahren.

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Im Dezember 2014 erschien der von ihm herausgegebene Band „Religion. Facetten eines umstrittenen Begriffs“ bei der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig. Dieser Artikel ist am 14. Oktober 2016 in der Kolumne "Grauzone" bei Cicero Online erschienen.